Screen, wohin man schaut. Verliert Basil seine Sinne? Michael Kuratli

Digitales Delirium

27. September 2016

Vier Tage nur am Screen. Holt sich Basil eine digitale Vergiftung oder wird ihm einfach nur langweilig? Unser Redaktor macht den Selbstversuch.

«You know what’s sexy? – A real conversation!» Mit diesen Worten begann mein Experiment. Es war Montagmorgen und dies der erste Satz, den ich las. Eine Freundin, an deren Namen ich mich bloss dank Facebook erinnere, hatte ihn gepostet. Ich fragte mich, was sie wohl mit «real» meinen könnte. Und was zur Hölle soll daran sexy sein?

Vielleicht lässt es sich herausfinden, wenn ich lange genug auf ebendiese Realness verzichte. Das war das Ziel meines Versuchs: vier Tage ohne greifbaren Kontakt zu anderen Menschen. Stattdessen sollten Screens aller Art die Lücke füllen. Und mehr als das: Ständig sollten sie mich umgeben, ausser im Schlaf.

Ich war vorbereitet, ohne einen Finger zu rühren. Es waren Ferien, niemand zuhause. Und wie immer in nächster Nähe: Handy, Laptop und ein funktionierendes WLAN-Netz.

Essen übers Netz

Montag also, etwa 8 Uhr, und Sexyness war mir gerade so lang wie breit. Tief die Leere im Kühlschrank, das war mir nicht egal. Doch keine Panik, einer der wichtigsten Survival-Tipps für das Überleben in der Screenwüste ist mir nicht entgangen: Coop@home. Ich liess mir Aufbackgipfel und Comella vor die Tür stellen. Zusammen mit allen Zutaten für Jamies Easy Family Lasagne. Ja, der gute Jamie! Via YouTube half er mir beim Zubereiten des Mittagessens. Und zwischendurch machte er sogar noch einen Witz.

Am Abend war ich das Fernseh-Nachkochen aber bereits leid. Schliesslich hatte ich gerade 32 Minuten Fat-Burning Cardio-Workouts mit Kelly von fitnessblender hinter mir und deshalb auch keine Not, erneut aktiv zu werden. Alternativen fand ich zum Glück genügend. Don’t cook, eat.ch. Ein Slogan, der meine Bedürfnisse für den bevorstehenden Abend grandios umschrieb. Ich schleppte mich und meinen Laptop auf die Couch und wartete, bis der Kurier mein online bestelltes Chop Suey brachte.

Als es an der Tür klingelte, hatte ich seit zwölf Stunden nahezu pausenlos auf einen Bildschirm gestarrt. Danke, das passt so, sagte ich und schloss die Tür hinter mir wieder ab. Meine erste und letzte Begegnung in diesen vier Tagen. Meteo hatte recht, es war bewölkt.

Arbeitssimulation

Kann mein Versuch als Beispiel für einen dauerhaften Zustand dienen? Falls ja, muss ich für Einkommen sorgen können. Ich durfte also nicht die ganze Zeit so untätig bleiben wie eben beschrieben. Schliesslich ist die virtuelle Welt nebst Konsumoase auch ein Ort fürs Schaffen und Arbeiten. Homeoffice nennt es der Bürogummi, für mich hätte es Fernstudium im Schlafzimmer besser getroffen. Als Studi musste ich mit OLAT simulieren, wie sich das Erwerbsleben von Zuhause aus anfühlt.

Und es fühlte sich gut an. Konzentriertes Lernen am Computer war Erholung von den dutzenden Fernsehserien, die mir das Gehirn vernebelt hatten. Ich vergass meinen Versuch und beinahe auch, dass ich vor einem Bildschirm sass. Ausserdem war die Situation mir nicht unbekannt. Ich hatte wohl schon etliche Lernphasen gehabt, in denen ich mehr als bloss vier Tage ständig in einen Screen starrte.

Zu Recht also der Einwand, dass ich mich keiner Extremsituation aussetzen musste. Eigentlich hatte ich nur einen ohnehin grossen Teil meines Alltags intensiviert und das ganze analoge Restleben in mein Zimmer bugsiert. Und es funktionierte! Es gab nichts, das mich gezwungen hätte, nach draussen zu gehen. Fitnesstraining, Kochkurse, Vorlesungen als Podcast, News und Filme. Kleine Talks auf WhatsApp, grössere per E-Mail, etwas Flirten auf Tinder und für die Romantik YouPorn im Kerzenlicht. Alles auf denselben 20 Quadratmetern. Überlebenskünstler muss man dazu mitnichten sein.

Drei Tage klebten meine Augen bereits am Screen. So weit, so normal. Das Schlimme daran war, dass meine Ambitionen für ein sinnlich gestaltetes Leben von Tag zu Tag abnahmen. Ich verlumpte innerlich und äusserlich. Keine angenehm rauen, weil frisch gewaschenen Jeans mehr; der feurige Appetit am Ende einer Bergwanderung oder der süssliche Geruch eines Sommerregens auf dem Asphalt waren fast vergessen. Das Erleben meiner Umwelt mit Händen und Füssen, Augen und Ohren wurde mir zwar nicht gleichgültig, doch verlor es an Wichtigkeit. In meinen Sinnen stellte sich eine Trägheit ein, die kaum mehr Ansprüche stellte. Temperamentlos tat ich, was zu tun war. Aufwandsminimierung die Maxime. Ich wurde zu faul, um mir Schönes zu gönnen.

Für das vier Tage lang geführte virtuelle Leben war mein Leib entbehrlich. Würde ich diesen Versuch weiterführen, über etliche Wochen, würde mein Körper mir dann gar zur Last? Mühsame Sportübungen, allein um Rückenschmerzen nach permanentem Liegen und Sitzen vorzubeugen?

Und dann die täglich wiederkehrende Notdurft, für deren Erledigung ich ein eigenes Zimmer finanzieren muss. Teuer auch das Essen. Dreimal täglich muss ich Futter schaufeln, weil meine sterbliche Hülle selbst im Leerlauf dermassen viel Energie verschleisst. Wäre all das nicht abschaffungswürdig?

Sinnlicher Sinn

Es liegt mir fern, diese Frage an mir selbst beantworten zu wollen. Vier Tage waren kurz genug, um mich danach wieder erfolgreich gegen das Dahinvegetieren auflehnen zu können. Seither fühle ich mich wieder beschwingter. Ich denke, weil Markus Werner recht hatte, als er in seinem Buch «Froschnacht» erklärte, Sinn liege im Sinnlichen und unsere Sinnkrisen seien primär Krisen unserer Sinne.

Ich kann mich wieder mit anderen Menschen austauschen. Kann mit ihnen debattieren, flirten und streiten. Genau wie ich es auch über Screens konnte. Mit einem Unterschied: Ich kann sehen, wie sie ihre Augen verdrehen, riechen, was sie eben gegessen haben, hören, dass sie erkältet sind, und über den Parkettboden spüre ich, wie ihr Fuss hektisch auf und ab wippt, wenn sie nervös sind. Ob das sexy ist, weiss ich noch immer nicht. Ich gehe jetzt wieder nach draussen und suche nach Antworten. Meinen Körper nehme ich mit. ◊