Die Revolution des Lernens

27. September 2016

Das Internet zerschlägt das Wissensmonopol der Universität. Wie das die Zukunft der Lehre verändert und wieso wir davor keine Angst haben sollten.

Acht Uhr morgens, eine beliebige Vorlesung an der Universität Zürich. Eine Studentin, nennen wir sie Rahel, klappt ihren Laptop auf, ihr Handy neben sich auf dem Tisch. Sie macht sich Notizen direkt in die digitalen Vorlesungsfolien. Rahel ist nicht alleine. Kaum jemand im Raum schreibt noch mit Stift und Papier. Ein Saal voller in den Bildschirm starrender Menschen, das mechanische Klappern der Tastaturen; die technischen Geräte, die einen völlig absorbieren: ein Bild, das einem durchaus Angst einjagen könnte. Doch Forscherinnen und Forscher , die das digitale Lernverhalten untersuchen, relativieren: «Man muss die Digitalisierung im Kontext der Medienentwicklung sehen», sagt Daniela Tenger, die bis Mitte 2016 am Gottlieb-Duttweiler-Institut unter anderem zu Bildung und Kultur geforscht und dort einen Text mit dem Titel «Lernen 2025» verfasst hat. Die medial geschürte Furcht vor der kompletten Digitalisierung des Lebens relativiert sie, gerade in Bezug auf die Uni: «Die Menschen haben bei jeder technischen Neuerung Angst, ihr Leben werde grundlegend umgekrempelt. Nur hat sich bis jetzt im Bildungsbereich erst wenig verändert.»

Konzentrationskiller Multitasking

Rahel notiert fleissig, doch immer wieder plätschern Nachrichten auf ihr Telefon und ihren Laptop. Alles geschieht parallel: dem Professor zuhören, Nachrichten zum letzten Abend und zum kommenden, alle möglichen Social-Media-Kanäle – die Ablenkung ist perfekt. Eine Tendenz, die Oliver Bendel, der an der Fachhochschule Nordwestschweiz zu Informations- und Maschinenethik forscht, beschäftigt: «Die Digitalisierung verändert unser Verhältnis zur Gleichzeitigkeit. Die Studierenden sind physisch anwesend, aber gleichzeitig völlig woanders. Nur bei Reizwörtern wie ‹Prüfung› kehren sie gedanklich in den Unterrichtsraum zurück.» Digitalisierung und vor allem digitale Medien würden eine akute

Konzentrationsgefährdung darstellen, meint Bendel weiter.

Endlose Alternativen

Während im Unterricht wenigstens eine anwesende Lehrperson versucht, die Aufmerksamkeit auf sich und ihr Wissen zu lenken, sieht es ganz anders aus, sobald die Vorlesung zu Ende ist. Tenger sieht die Deutungshoheit der klassischen Bildungsinstitutionen unter Druck. «Die Uni erfährt enorme Konkurrenz durch alternative Möglichkeiten, Wissen zu erlangen», sagt sie und nennt als Beispiele YouTube-Videos oder Lern-Apps. Für Studierende sei das in erster Linie ein Vorteil. «Die Frage ist nur, wie man sich der Qualität des vermittelten Wissens sicher sein kann, wenn nicht mehr das offizielle Logo der Uni draufprangt.»

Überforderung

Später ist Rahel in der Zentralbibliothek. Inmitten von Millionen von Büchern sitzt sie vor ihrem Notebook und liest in einem Buch, das sich in einer Bibliothek in den USA befindet. Das Wissen speist sich längst nicht mehr nur aus den etablierten Institutionen und bekannten journalistischen Publikationen.

Für Bendel ist der kritische Punkt die Quelle der Information. «Die Frage ist: Wer bietet mir das Wissen an? Wenn ich etwas über die Entstehung der Welt lernen will und dann statt in einem soliden Evolutionsseminar auf einem Informationsvideo von Kreationisten lande, so ist das heikel.» Bendel sieht das Problem nicht nur in der Flut des mehr oder weniger zuverlässigen Wissens: «Je komplexer die zu vermittelnde Information, desto mehr versagt die Digitalisierung.»

Ist das Netz also zu dumm für komplexe Gedankengänge? Oder liegt es daran, wem wir bei der Informationsbeschaffung vertrauen und wie gemütlich wir es uns machen? «Die Digitalisierung bietet den Menschen eine unglaubliche neue Vielfalt», ist auch für Zukunftsforscherin Tenger klar. Aber: «Die Informationsbeschaffung wird immer einfacher, dafür auch immer schnelllebiger und unzuverlässiger. Das grenzenlos verfügbare Wissen kann schnell zur Überforderung führen.»

Screen im Kopf

Tatsächlich wachsen die digitale und die analoge Wissenswelt immer mehr zusammen. Wo man heute ganz selbstverständlich zwischen Büchern und persönlichem Gespräch, zwischen Wikipedia und OLAT hin- und herwechselt, wird in Zukunft auch der einzelne Mensch immer mehr mit der digitalen Technologie verschmelzen.

«In den kommenden Generationen wird es immer mehr Menschen geben, die bereit sind, sich Chips oder andere technologische Hilfsmittel zu implantieren, um ihre Lernleistung zu verbessern», meint der Maschinenethiker Bendel. Das stelle die Universität vor Herausforderungen: «Wie soll dieser technologische Vorteil überprüft werden? Es geht nicht mehr nur um Menschen, die vor Computern sitzen, es geht je länger je mehr auch um Computer, die in Menschen sitzen.» Bald haben wir also den Screen einfach im Kopf statt vor der Nase. Vielleicht wird sich gar nicht so viel ändern und in Zukunft werden ganz gewöhnliche Menschen, die vielleicht Rahel heissen, das digitale Wissen unmittelbar vor dem geistigen Auge haben. Der wirklich springende Punkt wird sein, welches Wissen sie sich auf den implantierten Chips speichert. Früh aufstehen, um in die Vorlesung zu radeln, müsste Rahel dann nicht mehr, schliesslich wäre ja alles Unterrichtsmaterial noch einfacher abrufbar, als es jetzt schon ist. «Wenn die Lehre über die Unterrichtsmaterialien hinaus nichts weiter bietet, dann gibt es keinen Grund mehr, an die Uni zu gehen. Daher ist es wichtig, dass die Dozierenden Anreize schaffen, dass man sie live erleben will», meint auch Professor Bendel und fordert: «Dozierende müssen Entertainer sein. Sachen vermitteln, die eigenartig, fremdartig, faszinierend sind. Wissen gehört zelebriert. Und das ist zum Glück nur schwer über Screens zu erreichen.» Bleibt also zu hoffen, dass es die Lehre schafft, sich an das Verhalten Rahels und ihrer Generation anzupassen. Damit auch in Zukunft nicht nur auf die Bildschirme, sondern weiterhin in die Augen der Lehrperson geschaut wird. ◊