Babylonisches Integrationsprojekt: «Die, should sea be fallen in» im Theater Winkelwiese. Ingo Höhn

Theater in der Krise

23. Mai 2016

Fünf Zürcher Bühnen zeigten am Samstag diverse Interpretationen von Elfriede Jelineks «Die Schutzbefohlenen». Dabei wurde wenn überhaupt nur eines klar: Eine komfortable Rolle ist dem Theater in der Flüchtlingskrise nicht beschieden.

Mit hoch erhobener Nase fing es an, das Schauspielhaus-Ensemble. Mit herablassendem Ton sprach es diesen Text, sprach es Teile dieses Textes, der in seinem Ursprungsland Österreich Rechtsextreme dazu gebracht hatte, Theaterbühnen zu stürmen. Die mondäne Bourgeoisie auf der Pfauenbühne hing unter ständigem Trommelschlag und gelegentlichen Klaviereinsprengseln den Gedanken der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zu Europa nach. Gedanken zum Meer und den Zäunen, zu den Flüchtenden, zu ihrem Ankommen und Weiterkommen, ihrem Nichtweiterkommen. Sie sprach im Chor aus diesem Stück, das Jelinek immer weiter webt, solange noch Kapitel in diesem Kriegsdrama geschrieben werden.

Ja, diese feine Gesellschaft auf der Bühne hatte sich unter der Leitung von Barbara Frey dem Zynismus verschrieben, und sie würde an diesem Theater-Staffettenlauf nicht die einzige bleiben. Fünf Bühnen hatten sich zusammengetan und ein Kaleidoskop aus Jelineks Text geschaffen – einen Theaterabend, der vor allem zeigte, wie schwer es die Häuser haben, angesichts der handfesten Krise etwas zu produzieren, das von Bedeutung ist.

Das grösste Zürcher Haus machte unter diesem Gesichtspunkt nicht die beste Falle: Während der Pfauen das Klischee seines Publikums gleich selbst karikierte, verlor sich das Junge Schauspielhaus in der Kammer gänzlich in Rollenspielen. Affektierte Meerjungfrauen spielten sich in heiligem Unernst zu Diven auf. Beklemmung, angenommen, dass dies das Ziel des herablassenden Gestus war, kam dabei höchstens ob der Orientierungslosigkeit der Inszenierung auf.

Spiel mit dem Leben

Nicht ganz so einfach machte es sich – und auch dem Publikum – die Gessnerallee. Kaum jemand wird sich dem Sog des Spiels «Glückslose für Rechtlose», das echter nicht hätte sein können, entzogen haben können. Ein mit Lichtkegeln und Helikoptergeräuschen gefluteter Raum empfängt die Besuchenden. Drei Assistierende – viel zu wenig für den Andrang – weisen die Ankommenden dazu an, einen Lottozettel auszufüllen, um in die «Safety Zone» zu gelangen. Obschon die Gefahr, die drohen soll, nicht einzusehen ist, folgen alle brav den Anweisungen. Zivilisiert zwar, aber mit einer wachsenden Spannung drängt sich das Publikum um die Lottozettel, die es zur Hälfte auszufüllen gilt – Die andere Hälfte war schon von einem Geflüchteten im griechischen Idomeni ausgefüllt worden. Dann erhielt man den erlösenden Stempel, der die Passage durch das Gate bedeutet. Doch gar die FOMO (Fear Of Missing Out) – die einzige sich aufdängende Gefahr weit und breit – stellt sich als Trug heraus. Die Auserwählten mit ihren Champagnergläsern wirken, sobald der Rest hinter der Hochsicherheitsbühne, abgetrennt durch einen allzu symbolischen Zaun, Platz genommen hat, nun vielmehr als die Bestraften. Jeder Lottozettel ist nämlich mit dem Schicksal eines echten Flüchtenden verbunden, der in Idomeni auf den Zutritt zu seiner eigenen «Safety Zone» wartet, auf sein Ticket aus der unkomisch realen Gefahr. Die Anordnung ist so simpel wie bestechend: Echte Menschen, echte Schicksale, echte Konsequenzen. Das geht im wahrsten Sinn an die Grenze und hätte ohne überdeutliche Erklärungen noch stärker gewirkt. Doch die Spannung bleibt intakt: Sollten die eiligst von ein paar Zürcher Theaterbesuchenden hingekreuzelten Zahlen in der hiesigen Lottoziehung triumphieren, gewinnt irgendwo im Balkan ein Mensch eine Zukunft.

Theater im Verzicht

Doch zurück zu abstrakterer Moral und Ethik. Da war nämlich noch ein anderes Stück an der Gessnerallee – Wenn man den Film, der den Entscheidungsprozess einer Gruppe freier Theaterschaffender abbildete, so nennen darf. Auf dem Spiel standen 25’000 Franken, die für ein Projekt zu den Schutzbefohlenen verwenden werden konnten. Der Theatermacher Tim Zulauf entschied sich, einen Wettbewerb zu veranstalten und die Teilnehmenden mit ihren Projekten gleich selbst ausfeilschen zu lassen, wer zu Geld und Ruhm kommen sollte. In unmittelbarer Form spiegelte sich in den Diskussionen, die sich immer wieder auch um die freie Zürcher Theaterszene und ihr Verhältnis zum mächtigen Schauspielhaus drehten, die den ganzen Abend überschattende Frage: Was kann Theater angesichts der Flüchtlingskrise leisten? Entschieden haben sich die Künstlerinnen und Künstler für das Projekt «DeutschKURSK», das auf eine Kollaboration mit der Autonomen Schule Zürich setzte, wo Jelineks Text als Grundlage für einen Deutschkurs mit Asylsuchenden diente. Konsequenter lässt sich die kulturfeindliche Forderung, man könne das Geld, das für Theater eingesetzt wird, besser verwenden, kaum inszenieren.

Doch auch das Theater Winkelwiese hatte eine gute Antwort auf die Sinnfrage parat. Sie bot dem Versatorium Wien, einem Verein, der mit Flüchtenden «Die Schutzbefohlenen» zum babylonischen Übersetzungsprojekt machte, freie Bühne. Der behauptete Sinn erschloss sich hier jedoch nicht durch den Inhalt des auf dieser Bühne Gezeigten, obwohl für einmal auch Geflüchtete selbst mitspielten, sondern schlicht durch das beherzte Engagement der Gruppe.

Theater oder nicht Theater?

Einigermassen planlos schien dagegen das Theater Neumarkt zu agieren, wo Pär Thörn sein pedantisches Projekt, Texte aus der Bibel alphabetisch und mit der auftretenden Häufigkeit zu ordnen, im Auftrag von seinem Freund Markus Öhrn mit Jelineks Text wiederholte.

Auch die letzte Station schliesslich, das Fabriktheater, hielt keine neuen Antworten mehr bereit. Ein treuherziger Tellverschnitt im Latexgewand stritt sich hier mit einer deutschen Fledermaus um die richtige Verhaltensweise des potenziell solidarischen Individuums. Opfern wir einen Tag im Jahr für Bedürftige oder fordern wir vom Staat radikal das Stimmrecht für Geflüchtete? Obwohl nichts Abschliessendes zu erwarten war, hätte man das mittelständische Dilemma doch gerne noch etwas weiter ausgeführt gehabt, doch da mischte ein Hitlerjugend-Veteran im fluoreszierenden Engelsgewand zur allgemeinen Verwirrung noch etwas Geschichtsbewusstsein und Holocaust-Assoziationen hinein. Fertig war die hemdsärmelige Einerseits-Andererseits-Aber-im-Fall!-Reflexion zum Thema. Draussen besetzten derweil kamerascheue Aktivistinnen und Aktivisten aus der staats- und bildungsbürgertumskritischen Ecke den Clubraum. Ein Open-Mic bot hier Geflüchteten die Möglichkeit, selber das Wort zu ergreifen und ganz untheatralische, politische Reden zu halten, um auf die Realität jenseits der heilen Theaterwelt aufmerksam zu machen. Wobei den wenigsten Theaterwandernden klar geworden sein dürfte, ob das nun Teil des immensen Rahmenprogramms war oder genuine politische Empörung. Insofern reihte sich die Aktion ganz gut in einen Abend ein, an dem letztlich nicht zu entscheiden war, ob sich Theater angesichts der lähmenden Krise selbst aufgeben muss, um zu wirken, oder ob ein ironisch-zynischer Kommentar auch genügt.