CC Gongashan

Paris, Capitale de la sécurité

Paris ist die Stadt der Kathedralen und der Kultur. Und seit den Terroranschlägen auch eine Stadt im Ausnahmezustand. Ein Stimmungsbild.

Lucile Carré (Text) und Laura Cassani (Übersetzung)
10. Mai 2016

Das war sie also, die Hauptstadt, Paris la capitale. Paris mit den Kathedralen, mit der Kultur, ja, auch dem Moder und dem Mief. Viel hatte ich von dieser Stadt gehört. Bei meiner Ankunft im September 2015 umgab ein Eindruck von Frische und Freiheit Paris, dieser Grössenwahn, diese spezielle Kraft. Da waren natürlich auch die Luftverschmutzung, der Verkehr, der Anfang des Studienjahres; vor allem aber war da die Herbstsonne, die das fallende Laub goldbraun färbte, die Sonne der kürzer werdenden Tage, die bereits an den ersten Schnee denken lässt.

Paris versprach mir, der Kleinstädterin, eine neue Welt: Meine eigene Stadt kannte ich in- und auswendig, ich war gierig nach neuen Abenteuern, neuen Begegnungen, neuen Ereignissen. Paris versprach mir Aufregung, Lärm, Revolution – endlich! Paris, die Lichterstadt, Paris, die Widerständige, Zeugin jahrtausendealter Geschichte. Die Stadt, die sich von allen Angriffen erholte, sich immer wieder erhobenen Hauptes aufrichtete. Die Stadt, die mehr Kultur in sich vereint als ganz Frankreich zusammen, Paris, Capitale du Monde, eine mächtige Stadt, die anlässlich der Klimakonferenz COP21 im November 2015 erneut ihren Spitzenplatz demonstrieren sollte. Paris, die Oberflächliche und so Teure. Paris mit ihren Nächten und ihrer côté underground ...

Das war die Stadt, die sich mir offenbarte. Nie zuvor hatte ich mich freier und stärker gefühlt, nie zuvor standen mir so viele Möglichkeiten offen. Nie hatte ich so viel zu sehen gehabt, dass ich kaum mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Ich war ausser Atem, verzettelte mich, vergass fast mein Studium. Wie so viele, die sich für einen vergänglichen, zufälligen Moment im Herzen der Stadt versammeln, Fremde, les Erasmus, Studierende, Provinzlerinnen.

Die Abgründe der Stadt

Und dann plötzlich der Schock, ohrenbetäubend und lähmend. Wie wenn eine Mauer einstürzt: Die schöne Pariser Fassade verschwand, liess den Blick frei auf die Abgründe dieser Stadt, die doch eigentlich voller Energie, Liebe und Geschäftigkeit ist – und gerade damit den Hass der Verrücktesten dieser Welt auf sich zog. Der 13. November, internationaler Tag der Freundlichkeit, Freitagabend: Wie jeden Abend sind die Terrassen der Cafés voller Studierender, die lachen, flirten, trinken, die Konzertlokale voller Lieder und Musik. Doch plötzlich hält alles an, Paris hält an, alles weicht den Schreien, der Angst, der Trauer. Zuerst ist da noch keine Wut, sie wird erst später kommen. Zuerst ist da nur Traurigkeit. Die Stadt beweint ihre Toten, und die Welt weint mit ihr. Paris ist an diesem Abend verrückt, verrückt vor Schmerz. Aber die Stadt steht aufrecht, alle stehen aufrecht.

Noch nie gab es in Paris so viel Liebe wie an diesem Abend, trotz Hass, trotz Zerrissenheit. Noch nie gab es so viel gegenseitige Unterstützung: An diesem Abend beherbergt man seinen Nachbarn, den man nicht kennt, man spricht mit Klassenkameradinnen, mit denen man noch nie ein Wort gewechselt hatte. Auch in den folgenden Wochen möchten alle von Liebe sprechen, weil es der einzige Weg ist, mit dem Geschehenen zurechtzukommen, sich davon zu erholen. Wir brauchen Liebe, wir wollen lieben, und wir wollen miteinander reden. Wir haben nicht das Bedürfnis nach Erklärungen, nein, aber danach, zu wissen, dass wir nicht alleine sind, nicht alleine mit unserem Kummer.

Wut, Sicherheit und Widerstand

Schon sehr bald macht die Traurigkeit der Wut und dem Widerstand Platz. Ja, wir haben Angst, aber wir gestehen sie uns nicht ein, wir wollen weitermachen wie zuvor. Jetzt aber sind da all die Sicherheitsmassnahmen, der Ausnahmezustand, die Gepäckskontrollen. Der «Plan Vigipirate» der Regierung steht auf höchster Alarmstufe. Nirgends kann man mehr hingehen, ohne kontrolliert zu werden.

So beginnen die finsteren Tage, die Wintersonne verliert ihren goldenen Herbstglanz, scheint schwach aber blendet doch – und erhellt nichts. Es ist kalt, die Terrassen sind halbleer, Paris lebt in Zeitlupe, ist in einen offiziellen Tiefschlaf gefallen. Aber im Schatten erhebt sich die Stadt bereits wieder, die Wunden sind verbunden, die Verwundeten gepflegt. Paris wird weitermachen wie gewohnt, trotz der allzu stark verschärften Sicherheitsmassnahmen, die unsere Freiheit bedrohen. Schnell kommt wieder der Frühling, die Tage werden länger, das milde Wetter lässt die Studierenden wieder auf den Terrassen sitzen. Der Eiffelturm erstrahlt wieder im Licht der Scheinwerfer, er steht immer noch da, immer noch aufrecht.

Kultur als Zuflucht

Aber nichts ist mehr wie zuvor. Nichts ist mehr wie zuvor, weil wir getroffen wurden und jetzt eingeschlossen sind in der Stadt mit ihren Sicherheitsmassnahmen, weil wir Angst gehabt und verstanden haben, dass wir schnell leben müssen, jetzt, ohne abzuwarten. Deshalb fordern wir nun noch mehr Freiheit zurück, reagieren exzessiv, engagieren uns noch stärker. Wir erfinden neue Formen des Engagements, zum Beispiel die Nuits Debout: Wir verbringen die Nächte in den Strassen, um unsere Rechte zu verteidigen. Und wir werden streiken, wir werden demonstrieren, trotz aller Risiken. (Weil ein paar Terroristen das französische Volk nicht daran hindern werden, auf die Strassen zu gehen!) Wir müssen alles sehen, alles hören, alles tun, und zwar schnell, solange wir noch Zeit haben. An der Uni reiht sich Festival an Festival: Theater, Film, Fotografie, Comics. Es gibt cafés d’engagement, Schreib- und Zeichenwettbewerbe, Flugblätter werden verteilt und Organisationen stellen ihre Stände auf. Noch nie hatten wir ein solches Bedürfnis nach Kultur: Kultur als Zuflucht vor den Schrecken der Welt. Noch nie hatten wir ein solches Bedürfnis danach, uns zu engagieren, uns nützlich zu fühlen.

Einige mögen sagen, dass sich Paris nicht stark verändert habe, dass der Alltag nicht auf den Kopf gestellt wurde an jenem Novembertag, als der Schrecken gewaltsam in unsere Leben eingedrungen ist. Darauf würde ich entgegnen, dass die, die das sagen, Paris vielleicht nicht so gesehen haben, wie ich es in jenen Tagen sah. Dass sie diese Wut, dieses Verlangen nach mehr, immer mehr, nicht gespürt haben, diesen Extremismus der Liebe, des Teilens und Verschmelzens. Paris wird von nun an nie mehr dieselbe sein. Es ist an uns, dafür zu sorgen, dass die Veränderungen positiv sind. Il ne tient qu’à nous de faire un pari sur l’avenir. – Es ist an uns, eine Wette auf die Zukunft abzuschliessen.