Yair Meyuhas

Gegen die Gas-Tycoons

Wie eine Gruppe Studierender die Privatisierung des Erdgases in Israel verhinderte.

Oshrit Gan-El (Text) und Nina Kunz (Übersetzung)
10. Mai 2016

Samstagnacht im November 2015, Dizengoffstrasse, im Zentrum Tel Avivs: Es ist Winter, doch es es ist so heiss. Ich stehe in einer Menge von etwa 20'000 Leuten – doch eigentlich weiss niemand mehr genau, wie viele wir sind, weder die Medien noch die Polizei oder meine Mitprotestierenden. So laut wir können, singen und rufen wir: «Das Gas gehört uns allen!»

Die Energie ist explosiv, es ist unbeschreiblich. Das Gefühl, ein gemeinsames Anliegen zu teilen, das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Brüderlichkeit: Dinge, die so selten sind in unserem Zeitalter der Isolation. Ich fasse mir ungläubig mit den Händen an den Kopf und denke: haben wir das wirklich alles ins Rollen gebracht?

Protest gegen den «Gas-Raub»

Als wir anfingen, vor einem Jahr, waren wir nur eine kleine Gruppe Studierender der Universität Tel Aviv, Aktivistinnen und Aktivisten bei «Green Course», einer Non-Profit-Organisation, welche sich in ganz Israel für sozio-ökologische Anliegen einsetzt. Einmal in der Woche trafen wir uns, um darüber zu diskutieren, wie ungerecht mit dem Erdgas in Israel umgegangen wird. Wir sprachen auch über mögliche Aktionen, mit denen wir darauf aufmerksam machen könnten. Wir wollten etwas verändern – auf einem Gebiet, das bisher nur in Wirtschaftszeitungen verhandelt worden war, weitab von der Öffentlichkeit. Einige von uns, so auch ich, waren vorher noch nie aktivistisch tätig gewesen. Alle warnten uns, es sei ein verlorener Kampf gegen unbesiegbare Kräfte. Wer hätte gedacht, dass wir so viel Aufsehen erregen würden?

Doch mit der Zeit schaffte es das scheinbar unattraktive Thema – also der Umgang Israels mit seinen natürlichen Erdgas-Vorkommen – in die Mainstream-Diskussion. Zum einen dank hartnäckigem Aktivismus. Zum anderen, weil die Missstände so gravierend waren. Der «Gas-Raub», wie wir den Deal zwischen der israelischen Regierung und den Gas-Firmen nannten, brachte Zehntausende von Menschen dazu, auf die Strasse zu gehen, in über 20 Städten, Dutzende Male zwischen Mai und Dezember.

Mächtiges Erdöl-Monopol

Die Massen protestierten, weil durch den angesprochenen Deal das Erdgas – ein relativ sauberer und günstiger Treibstoff – in grossem Stil exportiert worden wäre, anstatt es für die lokale Industrie zu verwenden. Zudem hätte der Deal Israels Energiesicherheit gefährdet. Die Massen protestierten, weil der Gaspreis für den lokalen Markt sehr hoch war, und noch immer ist, da die Firmen ein Monopol bilden und ihre Vormacht missbrauchen – in einer Branche, die einfach nicht kompetitiv funktionieren darf. Daher forderten wir, dass die Regierung interveniert und den Preis halbiert.

Zudem hätte der vorgesehene Deal bedeutet, dass in den nächsten zehn Jahren nichts mehr am Vertrag hätte geändert werden können. Der Demokratie wären die Hände gebunden worden, die Regierung hätte sich in noch nie dagewesener Form einem Monopol unterworfen.

Auch die Entstehung des «Gas-Raub»-Deals war unerhört: Er wurde in einer Reihe vertraulicher Treffen zwischen den Staats- und den Firmenbossen vereinbart, ohne Protokolle, ohne jegliche Transparenz. Und er war anti-demokratisch: Ein Minister wurde entlassen, weil er den Vertrag nicht unterstützte.

Die Leute mit Informationen bombardieren

Die Leute spürten, dass etwas faul war, und begannen, die Motive der Regierung zu hinterfragen. Arbeiten die für uns oder für die Tycoons? Und warum? Der Protest, der mit uns Studierenden begonnen hatte, wurde grösser und grösser und mobilisierte Privatpersonen und Organisationen gleichermassen. Niemand führte ihn alleine an, die Leute arbeiteten freiwillig Tag und Nacht zusammen. Sie sprachen mit den Medien sowie den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, sie informierten sich, bombardierten die Leute auf Facebook mit ihrem Wissen und organisierten grössere und kleinere Kundgebungen in den Innenstädten, vor Parlamentsgebäuden, vor Privathäusern von Ministerinnen und Ministern.

Ein historischer Moment

Bis heute hat die Öffentlichkeit jedes Mal gewonnen: Vier Mal gelang es der Regierung bisher nicht, den Deal im Parlament zu verabschieden. Und als sie es endlich schafften – ohne Mehrheit, sondern indem sie ein in der Geschichte Israels noch nie angewandtes Gesetz mit fadenscheinigen Sicherheitsargumenten aktivierten – hat sie der Oberste Gerichtshof zurückgepfiffen.

Nichts davon wäre geschehen ohne das Erwachen der protestierenden Öffentlichkeit. Es muss sich noch zeigen, wie dieser Kampf enden wird. Aber ich weiss, dass ich den überwältigenden Moment in der Dizengoffstrasse nie vergessen werde. Ich weiss, dass ich einen historischen Moment erlebt habe, der ein Echo erzeugen und über den noch Jahre gesprochen wird. Als wir durch das Zentrum von Tel Aviv marschiert sind, die Ruhe in den Cafés störten und Tel Avivs Stereotyp als Blase der Gleichgültigkeit in Stücke zerbersten liessen, wusste ich, dass ich in diesem Moment an keinem Ort auf der Welt lieber wäre. Denn wenn wir unseren Zynismus beiseitelegen und aus unserer Bequemlichkeit ausbrechen, können wir unsere Stimme erheben, aufstehen und etwas ändern.

Wie dieser Themenschwerpunkt entstand

Am Anfang stand die Idee, nicht einfach über Studierende aus aller Welt zu berichten, sondern sie selber schreiben zu lassen. Es sollte ein Experiment werden: eine Carte Blanche für unabhängige studentische Journalistinnen und Journalisten in Ländern, über deren politische Situation wir zwar einiges lesen können, über deren Universitäten und deren Jugend wir aber gar nicht so viel wissen.

Ein Dutzend Anfragen per Mail und noch mehr angeregte Facebook-Gespräche später erhielten wir spannende, informative und überraschende Texte auf Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Wir haben sie übersetzt, aber kaum verändert.