«Ein intellektuelles Problem»
Sozialhistoriker Matthieu Leimgruber über das bedingungslose Grundeinkommen.
Am 5. Juni stimmen wir über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ab. Stellt ein Ja unser Sozialsystem auf den Kopf? Was ist aus sozialstaatlicher Sicht grundlegend neu daran?
Matthieu Leimgruber: Bedingungsloses Grundeinkommen und soziale Sicherheit sind zwei verschiedene Dinge. Die Grundidee der sozialen Sicherheit ist es, die Menschen gegen Risiken in der Gesellschaft zu versichern. Sie ist immer an die Bedingung der Arbeit gebunden. Sozialversicherungen regeln, was passiert, wenn man krank oder arbeitslos ist oder in Rente geht. Das bedingungslose Grundeinkommen verfolgt einen anderen Ansatz: Die Initianten wollen das Grundeinkommen unabhängig vom bestehenden Sozialversicherungssystem einführen. Es wird dabei offen gelassen, ob das Grundeinkommen die bestehenden Sozialversicherungen ersetzen oder erweitern soll. Das ist eine der Hauptproblematiken der Initiative. Was passiert mit der sozialen Sicherheit, wenn man ein Grundeinkommen einführt? Brauchen wir dann noch eine Arbeitslosenversicherung? Ist die AHV, wie die Initianten vermuten, dann hinfällig? Es steht in den Sternen, was mit den bestehenden Zweigen der sozialen Sicherheit passiert, sollte die Initiative angenommen werden.
Ist das bedingungslose Grundeinkommen ein Kind unserer Zeit? Steht es für einen gesellschaftlichen Umbruch?
Bestimmt. Eine solche Diskussion ist typisch für historische Phasen, in denen alles ein wenig im Fluss ist. Es ist durchaus vergleichbar mit der Situation Ende des 19. Jahrhunderts, als das erste Mal über die Verwirklichung eines Sozialstaats in ganz Europa nachgedacht wurde. Solche Debatten wurden oft von utopischen Projekten für eine bessere Welt begleitet. Es gibt heute auch grosse Fragezeichen, wenn es um die Zukunft unserer Gesellschaften geht. Ich stelle auch eine Rückkehr zu Diskussionen über Ungleichheiten fest. Viele sind der Ansicht, dass Arbeit zwar nicht verschwinden, aber je länger, desto ungleicher verteilt sein wird. Das Grundeinkommen ist Teil dieser Debatte.
Die Initiantinnen und Initianten betonen immer wieder, dass es keine Katastrophe sei, wenn die Initiative scheitert. Die AHV habe auch mehrere Anläufe gebraucht. Ist der Vergleich mit der AHV haltbar?
Es stimmt, dass die AHV fast 50 Jahre gebraucht hat und mehrere Blockaden erfuhr, ehe sie 1947 verwirklicht wurde. Aber die Idee der AHV war rasch in breiten Kreisen der Gesellschaft akzeptiert. Ihre finanzielle Umsetzung war höchst kontrovers, nicht aber ihr Prinzip. Die AHV war kein radikaler Umbau, wie es das Grundeinkommen wäre. Das Grundeinkommen befindet sich in einer Orientierungsphase. Von daher hinkt die Analogie.
Schafft das bedingungslose Grundeinkommen mehr soziale Sicherheit?
Es kommt ganz auf die Umsetzung an. Die Idee hinter dem Grundeinkommen ist sicher, mehr Sicherheit für die Leute zu schaffen. Die Initiantinnen und Initianten verkaufen das Grundeinkommen als eine Zauberlösung für viele gesellschaftliche Probleme. Aber viele Probleme werden gar nicht erst diskutiert im Umfeld dieser Initiative, obwohl sie bestehen. Mascha Madörin, eine feministische Ökonomin, hat zum Beispiel in verschiedenen Artikeln die Frage aufgeworfen, was passiert, wenn sie sich um ihre betagte Mutter kümmern muss, oder was passiert, wenn sie selbst mal alt ist. Die ganze Care Economy ist nicht geregelt durch diese Initiative. Weiter bemängelt Madörin, dass die Initiative Geschlechterbeziehungen fast vollständig ausklammere: Wofür bekomme ich das Grundeinkommen? Bekomme ich es zusätzlich zu meiner Lohnarbeit? Oder ist es auch als Entschädigung für Haushaltsarbeit zu sehen?
Ein philosophisches Problem.
Absolut. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nicht nur ein ökonomisches oder politisches, sondern auch ein intellektuelles Problem. Was ist Arbeit? Was ist Lohn? Es ist sehr spannend, darüber zu diskutieren. Aber man wird diese Fragen nicht mit einer einzigen Initiative beantworten können.
Werden wir in 50 Jahren ein bedingungsloses Grundeinkommen haben?
Möglich. Persönlich sehe ich nicht ganz, wie man ohne ein Sozialversicherungssystem leben kann. Fragt man aber beispielsweise Kunststudierende oder Freischaffende, so haben diese eine ganz andere Vorstellung von Arbeit. Sie haben nicht das Ziel, sich in die Lohngesellschaft einzugliedern. Sie leben nicht nach der gesellschaftlichen Norm. Daher findet das Grundeinkommen gerade in solchen Kreisen besonders Anklang. Die Frage ist: Kann das Grundeinkommen je eine neue Norm sein?