Hier gibt’s Gespenster!
Das Stück «Ein Gespenst geht um in Europa» der Gruppe Hengst&Hitzkopf wird derzeit am Theater Winkelwiese aufgeführt. Eine gewaltige Lebensgeschichte, der man sich nicht entziehen kann.
Im steinernen Keller der Winkelwiese steht auf der Bühne ein einziger Stuhl. Links neben dem Stuhl eine Wasserflasche, rechts eine Umhängetasche. Auf dem Stuhl sitzt, geblendet vom Scheinwerferlicht, ein bärtiger Mann in Trainerjacke, Trainerhose und Sportschuhen. Er sieht etwas bedrohlich aus, wie er so die Augen zusammenkneift. Es ist José Barros, und mehr als Stuhl, Wasser und einige Fotos aus der Tasche wird er nicht brauchen, um auf der Bühne Szenen aus seinem eigenen Leben aufzurollen.
Gespenst oder Gespinst?
José Barros erzählt mit viel Humor und Feingefühl Geschichten aus seinem Leben. Das Stück beginnt lustig. Er erzählt, dass er immer von einem Oscar geträumt habe und ahmt einige berühmte Filmszenen nach. „You talkin’ to me?“ Die Mädchen in der ersten Reihe kichern. Danach wird es ernster; seine früheste Kindheitserinnerung, die Schulzeit, Freunde, Feinde, Freundinnen, Bruderschaft, schliesslich seine erste Rolle in einem Spielfilm. Immer wieder erweckt er neue Personen und Szenen auf der Bühne zum Leben und lässt sie wieder vergehen, wenn er zurück auf den Stuhl sinkt und sie mit einem Schluck Wasser wegspült.
Und immer mal wieder schwingt da etwas Bedrohliches mit. Was hat es damit auf sich, wenn Jamal ihn fragt, wie er seinen Döner esse? Wieso ist ein Bekannter in Syrien gefallen? José Barros tritt dabei immer wieder in Kontakt mit dem Publikum, baut eine Beziehung auf. Das Kichern in der ersten Reihe hat spätestens dann aufgehört, als uns José vorführt, wie in seiner Jugend Blicke Kriege auslösen konnten: Er fixiert einen Zuschauer. „Was guckst du? Ey, hab ich Scheisse in der Fresse oder was?“ Er geht auf ihn zu. „Nimm deinen Fuss weg!“ Als der Zuschauer nicht zurückweicht, klatsch er ihm mit einer plötzlichen Bewegung ans Knie. Die Stimmung ist geladen. Als er gleich danach ins Publikum fragt: „Wer von euch hat eine Freundin?“ heben sich erst nach ein paar Sekunden zögerlich einige Hände. Alles nur genial gespielt? Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.
Lebensgeschichte statt Islamismus
Liest man die Beschreibung des Stückes auf der Website des Theaters, könnte man etwas ganz anderes erwarten. Von der Verachtung des Westens, die er und seine Freunde haben sollen, ist nichts zu spüren. Die Themen Islam und Radikalisierung, welche in der Beschreibung prominent in den Vordergrund treten, werden im Stück nur oberflächlich angekratzt. Dafür gehen die Szenen aus Josés Leben umso mehr unter die Haut. Sie werden nicht bloss erzählt, sie werden noch mal gelebt. Wer etwas erleben möchte, der sollte dieses Stück nicht verpassen! Eine gewaltige Lebensgeschichte, der man sich nicht entziehen kann.
«Ein Gespenst geht um in Europa» läuft noch bis zum 14. Mai im Theater Winkelwiese.
Die ZS verlost für die Aufführungen am 12. 13. und für die Dernière am 14. je 4 Karten. Facebookpost liken zum mitmachen!
«Meine Arbeit hat mein eigenes Gespenst aufgedeckt»
Interview: Kevin Solioz
Vor der Premiere traf die ZS in der Winkelwiese das Duo Hengst&Hitzkopf, bestehend aus Timo Krstin und Dominik Locher und den Darsteller José Barros sowie die Darstellerin Janina Rashidi zum Gespräch über Islamismus und Identität.
Wieso habt ihr als Titel „Ein Gespenst geht um in Europa“ gewählt, den ersten Satz des Kommunistischen Manifestes?
Timo Krstin: Im Kommunistischen Manifest wird eine Europäische Einheit behauptet und in dieser geht ein Gespenst um: Die Angst vor einem politischen Umsturz. Karl Marx nannte es Kommunismus. Man kann dieses Gespenst aber auch als Vergleich heranziehen, um gewisse heutige Phänomene, wie die Angst vor dem Islamismus zu begreifen. Wir dachten, wenn wir einen Diskurs über Islamismus führen wollen, dann gucken wir etwas tiefer und suchen Parallelen, Ansätze wie so ein Phänomen schon mal verstanden wurde.
José Barros: Ich fand es sehr spannend, wie das Gespenst in den Köpfen der Europäer umgeht. All das, was beim Mann, bei der Frau im Alltag im Kopf vorgeht. Keiner hat das Stück bisher gesehen und trotzdem geht’s direkt um Islamismus und man muss sich von Dingen distanzieren. Was ist die grosse Angst dahinter?
Ihr wollt also einen Diskurs über Islamismus führen?
Timo Krstin: Wir machen kein Diskurstheater, wir liefern keine Informationen. Wir machen ein Theater, welches sich anhand der Biografie von José Barros fragt: Wo leben wir eigentlich heute und wo können bestimmte Diskurse einen Menschen bestimmen? Natürlich machen wir das bewusst vor dem Hintergrund des Islams. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung sieht man heute auf der Bühne. Ob dadurch irgendeine Frage über Islamismus beantwortet wird, dass muss man selber sehen. Vielleicht stellt es auch nur eine Frage, weil dieser Titel darübersteht. Das ist der Prozess, wie Theater entsteht.
Ihr nennt euer Vorgehen Dokumentartheater. Was ist das?
Timo Krstin: Das Dokumentartheater behauptet irgendeine Form der Realität. Das Material wird als nicht-fiktiv behauptet. Dieses Material kann, so hässlich das auch klingen mag, auch ein Schauspieler sein. Zum Beispiel: Ein Interview,welches man nachspielt, ist real geführt worden. Dann wären das zwar Schauspieler auf der Bühne, aber der Inhalt ist real. Unsere Form des Dokumentartheaters behauptet zusätzlich die Realität des Menschen. Das ist noch mal eine Nummer krasser.
Hat sich deine Sicht auf deine eigene Identität dadurch verändert?
José Barros: Ja, ich habe durch die Arbeit hier mein eigenes Gespenst aufgedeckt. Mein persönliches kleines Monster. Ich habe mich immer wieder selber erwischt, wie ich dieses Gespenst nähre. Ich glaube, ich habe durch das Stück zu vielen persönlichen Sachen einen gesünderen Zugang gelernt.
Es geht in dem Stück also zu einem grossen Teil um Identität?
José Barros: Es geht um eine Identitätssuche in einer Zeit von Sturm und Drang. Die kannst du mit 17 haben, die kannst du aber auch noch mit 29 haben. Da gibt es Momente, in denen dir bestimmte Dinge einen neuen Ansatz zeigen. Das ist eine Energie, die kann man entweder gut nutzen oder man kann sie schlecht nutzen. Es geht in dem Stück darum, wo so etwas hinführen könnte. Es gibt dem Gespenst ein Gesicht, das muss nicht unbedingt meines sein. Es geht darum, sein eigenes Gespenst zu erkennen. Das ist das Spannende daran: Aus dem Theater zu gehen und sich selbst erwischt zu haben.