Sina Jenny

Hochleistungstradition

Die Akademische Turnerschaft Utonia Zürich gehört zu den letzten pflichtschlagenden Verbindungen in Zürich. Zu Besuch im Trainingsraum.

8. April 2016

An den Wänden hängen Degen, in den Kisten sind Kettenhemden und weitere Kampfmontur verstaut. Der Keller sieht aus wie eine mittelalterliche Waffenkammer. Ich befinde mich im Trainingsraum der Akademischen Turnerschaft Utonia Zürich, einer schlagenden Verbindung. Damian und Timon, beides Burschen, begrüssen mich und bereiten mich auf die anstehende Fecht-Lektion vor. Ich erwarte viel Bewegung und mindestens eine leichte Schramme durch meinen ersten Schlagabtausch. Eine Erwartung, die zu meinem Glück enttäuscht wird.

Die Utonia existiert seit 1873 und gehört zu den drei verbleibenden «pflichtschlagenden» Verbindungen. Die 16 Mitglieder der «Turnerschaft» sind eine eingeschworene Truppe, die sich regelmässig trifft – und dem Prozedere ihrer selbstauferlegten Regeln folgt. Zum Beispiel, wie man ein Bier zu trinken hat. Und was bei anderen Vereinen der Fussball ist, ist hier das Fechten. Natürlich ebenfalls nach strengen Regeln. Schliesslich gehörte die Mensur, das Duell, bis ins 20. Jahrhundert zum guten Ton in studentischen Kreisen.

Mit Armstulp und Degen

Doch was bewegt einen heute noch dazu, sich freiwillig einer Verbindung anzuschliessen, in der es sogar zur Pflicht gehört, sich im Fechten zu messen? Christian, Präsident der Utonia, muss nicht lange überlegen. «Es ist die Herausforderung, sich etwas stellen zu müssen», meint er. Also auf zum Duell: Nach einem kurzen Aufwärmen bekomme ich einen Handschuh, einen Armstulp und einen Degen in die Hand gedrückt. Timon versichert mir, dass bei den Trainings ausschliesslich mit stumpfen Klingen geübt wird – ich hoffe es. Doch bevor ich zum ersten Schlag ansetzen darf, gilt es, sich die genauen Abläufe einer Partie einzuprägen. Einfach drauflosschlagen geht nicht.

Wie ein Skistock auf der Winterjacke

Damian testet als erstes meine Deckung, indem er eine Schlagabfolge an mir demonstriert. Ich verharre in der Grundposition des Fechtens: Der eingepackte Arm über dem Kopf, den Degen nach unten, bildet man ein schützendes Quadrat vor dem Kopf. Denn dieser ist das Ziel des traditionellen Fechtangriffs. Richtig brutal wird es nie, Damians Schläge auf den Arm fühlen sich mit dem Schutz etwa so heftig an wie ein Schlag mit einem Skistock auf eine Winterjacke. Von Schmerzen keine Spur. Lediglich mein Fechtarm wird nach wenigen Minuten schwer, schliesslich ist er immer in der Luft. Verletzungen sind heute ohnehin selten: Weder Timon, Damian noch Christian haben einen sogenannten «Schmiss», eine Wunde also, die man sich bei einer Partie eingefahren hat. Früher wurden diese mit Stolz getragen. Manch einer soll Salz in seine Wunde gestreut haben, damit er sein Mal länger tragen konnte.

Drei- bis viermal pro Woche trainieren Timon und Damian mit ihren Verbindungskumpanen. Eine intensive Vorbereitung also für die Fechtpartien, die mit Mitgliedern einer anderen Verbindung geführt werden. Zu einer solchen kriegt man sogar noch etwas mehr Schutz vor Schlägen. Dennoch sieht der voll ausgerüstete studentische Fechter neben den Hightech-Outfits der olympischen Sportler wie ein Zeitreisender aus. Kein Helm, keine weissen Ganzkörperanzüge, sondern nur einen brillenartigen Gesichtsschutz und ein Kettenhemd. Wer sich nicht gut schützt, kann also durchaus blutend die Bahn verlassen.

Die Utonia betreibt ihre aufwendige Tradition mit Stolz. Doch anders als früher wird nicht mehr für die Selbstverteidigung gefochten. «Das Fechten ist heute vielmehr ein Hochleistungssport», meint Christian. Und eine Kunst, denn die rigoros festgelegten Bewegungsabfolgen auszuführen, würde einiges an Training erfordern.

Unblutiger Ausgang

Endlich darf auch ich fechten. Zumindest mit einem Dummy. Einen Treffer zu platzieren, ist aber schwieriger als gedacht. Schlagen darf ich nur in bestimmte Teile des Gesichts. «Alle Regeln dienen dem Schutz der Fechter», betont Christian. Mein Training endet zum Glück ohne blutigen Zwischenfall. Viel bewegt habe ich mich auch nicht. Wirklich angespannt ist nur mein Fechtarm. Dennoch: die organisierte Schlagerei macht durstig. Ich sehne mich nach der anderen grossen Tradition der Verbindungen – dem Biertrinken. Dazu laden mich die drei Kämpfer gerne ein. Natürlich geht aber auch das nur mit strengem Regelwerk. Und vielleicht haben sie ja Recht: Schliesslich ist auch der Alkoholkonsum nicht frei von Verletzungsgefahr.