Kevin Solioz

Der innere Schweinehund

Wenn die Aufschieberei zum Problem wird: Hunderte Studis suchen jährlich psychologische Hilfe.

8. April 2016

Eigentlich sollte man auf eine Prüfung lernen, aber kaum setzt man sich an den Schreibtisch, kommt eine E-Mail rein. Plötzlich fällt einem auf, dass man ja schon lange die Fingernägel lackieren wollte und dann hat man schon wieder Hunger. Wo waren wir? Ach ja: Prokrastination, das Modewort für die absolute Herrschaft des inneren Schweinehundes.

Für 300 bis 500 Studierende und Doktorierende ist das Phänomen nicht nur einfach ein lästiger Begleiter durchs Studium, sondern ein ernstes Problem. So viele Menschen melden sich deswegen nämlich jährlich bei Dominic Suter von der Psychologischen Beratungsstelle der Universität Zürich.

Die Angst vor dem Erfolg

Dieser beschreibt das Hauptproblem hinter der Aufschieberitis so: «Es kommt häufig vor, dass sich die Patienten unbewusst vor dem Erfolg fürchten. Die Leute haben Angst zu zeigen, was sie wissen und was sie können – weil sie sich vor negativen Reaktionen anderer fürchten.» Lieber stehe man sich selbst im Weg, als dass man andere ein Urteil über seine Leistung fällen lässt.

Veronika Brandstätter, Professorin für Allgemeine Psychologie mit Schwerpunkt Motivations- und Emotionspsychologie, hat eine noch einfachere Erklärung für das Phänomen: «Wenn die Tätigkeit selbst unangenehm ist, wird sie einfach gerne aufgeschoben.» Negativen Gefühlen, die das Lernen hervorrufen, wird also einfach ausgewichen.

Ist Prokrastination demnach, wenn man schlicht keine Lust auf Arbeit hat? Suter macht eine andere Erfahrung. Nur selten kämen Studierende zu ihm, die die Arbeit aus Unlust und Desinteresse aufschieben. Nicht erst beim Lernen auf eine Prüfung oder beim Schreiben einer Arbeit hätten seine Patientinnen und

Patienten Mühe, sondern ihnen fehle auch schon die Motivation, in die Vorlesungen zu gehen und ihre Hausaufgaben zu machen.

Vorlesungen schwänzen, Hausaufgaben vergessen: Schon wieder ist man versucht, bei sich selbst chronische Faulheit zu diagnostizieren. Doch ab wann wird das Prokastinieren denn nun wirklich zu einem Problem, mit dem man zum Psychologen gehen sollte? «Wenn man wiederholt Prüfungen nicht bestanden hat, weil man zu spät angefangen hat zu lernen oder wenn man Abgabetermine für Arbeiten verpasst hat, sollte man das Problem sicher angehen», meint Suter.

Die Hilfestellung kann dabei verschiedene Formen annehmen: «Manchmal reicht es schon, in einem ersten Gespräch die Probleme zu formulieren, um die Hemmung zu überwinden.» Es gäbe aber auch Fälle, bei denen regelmässige Sitzungen oder eine Überweisung zu einem niedergelassenen Therapeuten nötig seien.

Ein zeitgenössisches Problem?

Letztlich gibt es für Prokrastination aber keine einheitliche Therapie. Denn offiziell gilt die Aufschieberei trotz ernstzunehmender Konsequenzen für Betroffene nicht als psychische Erkrankung. Schliesslich bleibt bei der «Modekrankheit» noch die Versuchung, der modernen Leistungsgesellschaft die Schuld zu geben.

Doch Suter widerspricht: «Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem heutigen Leistungsdruck und dem Phänomen des Prokrastinierens.» Zwar sei der Druck von der Gesellschaft real, er werde aber nur übermässig wahrgenommen, wenn dieser von innen komme. Es bleibt also beim inneren Schweinehund. Und diesen muss offenbar am Ende jede und jeder selbst überwinden.