Michael Kuratli

Musik mit der Brechstange

Jeden Tag hat Marco Baumgartner im letzten Jahr ein Lied aufgenommen und ins Netz gestellt. Damit fordert er auch gesellschaftliche Vorstellungen von Kreativität heraus.

24. Februar 2016

Wir sind alle Sklaven der Kreativität geworden. Marco Baumgartner ist einer, der sich aus freien Stücken ein Jahr lang selbst zur Kreativität gezwungen hat. Seine Agenda war 2015 leer. Trotzdem war sein Tagesablauf klar vorgezeichnet: täglich eine Aufnahme für sein Projekt «Daily Recordings» produzieren. In seinem Gemeinschaftsatelier in Altstetten arbeitete er bis in den Morgen, schlief, zuhause angekommen, bis in den Nachmittag hinein; nur um direkt wieder ins Atelier zu gehen. Musik unterrichten, Song aufnehmen. 365 Tage lang. Täglich.

Musik wie Müll raustragen

Über zehn Stunden Musik sind so entstanden, die man sich gratis anhören kann – sofern man Marcos Webseite findet. Denn wirklich vermarktet hat der Musiklehrer und Bastler sein manisches Projekt nicht. Zu Geld machen lässt sich das Opus sowieso nicht, doch das war auch nie Marcos Ziel: «Ich wollte den Faktor der Inspiration, der Muse ausschalten. Songs zu produzieren sollte so alltäglich und routiniert werden wie Müll raustragen oder Abwaschen», sagt Marco. Tatsächlich eignen sich seine Etüden als guter Hintergrundsound beim Kochen oder Wäsche Aufhängen. Und das ist durchaus positiv gemeint.

Daily Recording vom 15. März

Doch wie kommt jemand überhaupt dazu, ein derart aufwändiges Projekt aufzuziehen und ein Jahr lang fast nichts Anderes zu machen? Ohne kommerzielles Ziel, ohne auch nur auf Bekanntheit abzuzielen? Seine täglichen Lieder seien vor allem ein Lernprojekt für ihn gewesen, technisch, instrumentell, aber auch, was Durchhaltewillen angehe. «Ich habe früher oft fertige Lieder online gestellt und später wieder offline genommen, weil ich im Nachhinein unzufrieden war. Bei diesem Projekt ging es um das Grössere. Dass dabei auch schlechtere Lieder entstanden, ist klar.»

1. Juli: «Was staht druf?»

Ein Jahr lang richtete er sich sein Trainingscamp im Atelier am Rande der Stadt ein; zwischen Autobahn, Metallrecycling und Bahngleisen, auf denen alle paar Minuten ein Zug ins Mittelland donnert. Ein Ort für Künstler, die vor dem professionalisierten Kunstbetrieb und den damit einhergehend steigenden Mieten in die Peripherie flüchten. Marco entspricht nicht dem digital vernetzten Künstler, der das Internet enthusiastisch nutzt. Sozialen Netzwerken weicht er aus, auf seinem Computer läuft Linux, alle Software ist Open Source. Vereinsamt sei er trotz seinem manischen Musiktagebuch nicht. Aber vieles habe unter dem Projekt gelitten. Die Ordnung zu Hause, Rechnungen.

Der Imperativ des Kreativen

Einen kreativen Prozess mit Routine zu geisseln und dieses Experiment zum Job zu machen, klingt paradox. Marcos Projekt lässt sich so auch als Spiegel für eine Gesellschaft lesen, in der das Kreative ein Imperativ geworden ist.

Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch «Die Erfindung der Kreativität», wie das «Kreativitätsdispositiv» alle Lebensbereiche der Gesellschaft langsam eingenommen hat: Kunst, Ökonomie, Politik, Raumplanung – alles wird stetig ästhetisiert und folgt der ständigen Forderung an das Individuum, das kreative Potential, das angeblich in uns allen schlummert, auszuschöpfen.

Eine Geisteshaltung, die laut Reckwitz aus einem romantischen Weltbild in unseren Alltag eingedrungen ist und ursprünglich eine Form der Rebellion gegen das Establishment war.

Schliesslich sagt auch Marco: «Jeder könnte dieses Projekt machen. Man muss es einfach durchziehen.» Seine Arbeit zeigt auf, was mit dem kreativen Imperativ passiert, wenn man ihn ad absurdum führt. Wenn man «Musik mit der Brechstange» macht, wie es Marco nennt. Die Muse, die Inspiration, wird durch die Routine abgelöst. Und wird vor allem Arbeit – wie jede andere. Nur ohne Lohn, ohne Ruhm und abgesehen von etwas medialer Aufmerksamkeit kaum gesellschaftlicher Rückkoppelung. Am Ende ist Marco eben doch der Bohémien, der sich ausserhalb der Maschinerie auslebt.

Daily Recording vom 8. Oktober

Nicht massentauglich

Jeder, der ein bisschen musikalisch ist, könnte Marcos Experiment wiederholen. Und doch bleibt seine Ästhetik, die er aus seinem unkonventionellen Bastlertum schöpft, einmalig. Fertige Songs fürs Radio finden sich fast keine unter seinen Übungen. Von halb ausgewachsenen Popsongs bis zu Perkussionsexperimenten und elektronischen Patch-Tracks ist über das Jahr hinweg alles entstanden.Mal plätschern sanfte Klaviersoli sechs Minuten lang dahin, mal klöpfeln eine Marimba und etwas Stimme nur knapp 45 Sekunden lang einen vielversprechenden Beat. Droht etwas zu melodiös, ja fast massentauglich zu werden, bricht der Song gleich wieder ab. Marco liess Ecken und Kanten stehen.

3. Dezember 2015

Eine Best-of-Platte könnte er sich dennoch vorstellen. Was ihn aber viel mehr reizen würde, wäre, konzentriert an einem Album zu arbeiten. «Viel Zeit für die einzelnen Tracks habe er nicht gehabt, obwohl ich an nichts Anderem gearbeitet habe.» Wie hart die Arbeit an den Liedern war, merkt man ihnen manchmal an. Hin und wieder macht man sich beim Hören etwas Sorgen um Marcos mentale Gesundheit. Etwa wenn er am 3. August in einem Selbstgespräch herauszufinden versucht, ob er (oder der Andere?) einen Schwamm sucht (oder nicht). Mit der Zeit sei die Übung auch eine physische Belastung geworden. «Jeden kleinen Hautausschlag führte ich irgendwann auf den Lichtmangel im Studio zurück», sagt Marco. Deshalb hat er das neue Jahr auch erst mal mit zwei Wochen Urlaub begonnen.

3. August 2015: Der Schwamm

Trotz der Belastung, die seine sture Musikproduktion bedeutete, vermisst er sie jetzt. «Ich habe schon immer irgendein Projekt gehabt», sagt er. «Sei es, Computermusikprogramme zu programmieren, eine Schriftart zu entwickeln oder monatelang Rubik’s Cube zu üben.» Deshalb hat Marco schon wieder ein neues Projekt angefangen. Diesmal mit der Kamera. In seiner Wohnung testet er schon mal die Apparate. Es soll aber nicht jeden Tag ein Film entstehen, sondern vielleicht nur jede Woche. Klingt nach einem Haufen Arbeit. Kreativer Arbeit.

Marco Baumgartner Projekt «Daily Recordings» kann man sich auf seiner Homepage anhören. Dort kann man sich auch die «Patches» herunterladen und damit sein eigenes Kreativprojekt starten.

www.marcobaumgartner.com