Kein alter Mann mit weissem Bart
Widersprechen sich Glauben und Wissen? Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster in Zürich, ist der Richtige, um Antworten auf diese Frage zu geben.
Als Student wollte er linker Theologe werden, deshalb ging Niklaus Peter nach Berlin in die Marx-Lesekreise. Er beschäftigte sich mit Religionskritik und Soziologie, las Feuerbach, Nietzsche und Max Weber. Er begann an seinem Glauben zu zweifeln, schrieb sich, zurück in Basel, für Theologie sowie Jus ein, um möglicherweise Anwalt zu werden. Aber dann entschied er sich doch für die Theologie.
Herr Peter, sind Sie nun linker Theologe geworden?
Nein. Ich nahm die Marx-Lesekreise als eine Sekte wahr, die lasen Marx dogmatischer, als es vielleicht mit der Bibel je gemacht worden ist. Die linke Bewegung war damals in einem Zustand von Verhärtung und zudem ethisch problematisch: Ich habe Terror und Gewalt immer abgelehnt, und das war bei den Linken nicht so klar.
Apropos linke Anliegen: Religion spendet Menschen, die ein schweres Schicksal ertragen müssen, Trost. Werden sie so nicht davon abgehalten, sich zu behaupten und zu wehren?
Das ist eine wichtige Frage. Ich glaube nicht, dass Leute, denen die Religion Trost spendet, dann sozusagen apolitisch besänftigt sind. Man sieht, dass immer wieder Gruppierungen aus der Religion heraus entstehen, die sich über Ungerechtigkeiten empören. Religion kann also Leute zusammenbringen, die ein gemeinsames Anliegen haben, und sie hilft Menschen, Konflikte durchzustehen, weil man nicht allein ist, sondern in einer Gemeinde. Das heisst auch, dass man nicht nur auf sein eigenes Leben fokussiert ist, sondern bereit ist, etwas davon für die gemeinsame Sache zu geben. In diesem Sinne ist ein religiöses Konzept des Lebens: Ich habe gewisse Begabungen, die ich für mich entwickeln soll, die ich aber auch für andere einsetzen soll. Die besagte Kritik an der Religion ist insofern berechtigt, als es in der Geschichte auch religiöse Bewegungen gab, die politische Prozesse gestört haben. Aber trotzdem würde ich nicht sagen, Religion mache per se apolitisch und innerlich.
Gibt es Wissensinhalte, die Ihrem Glauben widersprechen?
Man muss aufpassen, dass man nicht auf dumme Art dogmatisch wird und die simple Vorstellung hat: Vormoderne gleich Glauben, Moderne gleich Unglauben, weil Wissenschaft. Das stimmt überhaupt nicht. Im Alten Testament ist von Ungläubigen die Rede, die sagen: Die Welt ist Macht, und deshalb setze ich mich einfach durch. Religion wurde und wird immer wieder dann zum Thema, wenn die Frage auftaucht: Gibt es neben rein natürlichen Durchsetzungsprozessen so etwas wie Normen?
Und doch kommen in der Moderne aufgrund der Wissenschaftsentwicklung Fragen in einer Kohärenz und Schärfe auf ein religiöses Weltbild zu, die sich nicht einfach abweisen lassen, indem man sagt: Es hat schon immer Gläubige und Ungläubige gegeben. Atheistische oder agnostische Weltbilder von hoher Kohärenz fordern einen heute als Theologen stärker denn je heraus. Beispiele: Ideologische Denkformen wie der neue Atheismus à la Dawkins, gewisse weniger ideologische Formen von Marxismus, oder die Luhmannsche Systemtheorie: ein biologisches Weltbild. Solche atheistische Weltauffassungen halten alle religiösen und ethischen Gedanken eigentlich für humanitäres Geflausel. Andererseits muss man sich fragen: Haben wir noch die Denkmittel, um ein in sich kohärentes religiöses Weltbild aufzubauen, wie es bei Denkern wie Platon, Aristoteles und Augustinus bis hin zu Hegel der Fall war? Dies ist momentan die Herausforderung der Theologie.
Sie befassen sich neben der Theologie auch intensiv mit Philosophie und Wissenschaft. Tun Sie dies, weil die Welterklärung der Religion an gewissen Stellen nicht genügt?
Absolut. Man kann nicht Theologie betreiben, ohne die Herausforderungen der Wissenschaft zu sehen. Es gab noch nie ein solch kohärentes Weltbild wie dasjenige der Naturwissenschaften. Physik, Chemie, aber auch Hirnforschung oder Soziobiologie deuten Elemente von Theologie und Ethik auf ganz neue und andere Art. Mit diesen neuen Deutungen muss man sich als vernünftiger religiöser Mensch auseinandersetzen.
Also sind Sie gegen eine abgekapselte Theologie. Umgekehrt gefragt: Was fehlt einer Wissenschaftlerin ohne Glauben?
Nehmen wir einen Neurowissenschaftler, der eine tolle Frau kennenlernt und vor den Fragen steht: Will ich mit ihr eine Lebensgemeinschaft eingehen und will ich mit ihr Kinder haben? Und was will ich diesen Kindern weitergeben? Gibt es so etwas wie Treue? Vielleicht ist für ihn dann Treue eine Art evolutionsbiologischer Mechanismus, den er nun halt mitmachen muss. Damit will ich sagen: Ein Wissenschaftler, der sich auf den Bereich der religiösen Fragen nicht einlässt, reflektiert den Bereich seines Lebens nicht. Ich meine also Lebensvollzüge, die einen rein szientistischen Kontext transzendieren. Man kann natürlich etwa mit Niklas Luhmann Vertrauen irgendwie als ein komplexitätsreduzierendes Kommunikationselement auffassen...
...dann läuft man Gefahr, dass einen die Freundin verlässt.
Genau. Ich würde Ihnen die Frage folglich so beantworten: Man ist nie nur Wissenschaftler, sondern man ist immer auch ein Mensch, der sich in Beziehungen von Vertrauen und Hoffnung befindet, der vielleicht auch jemandem Leid angetan hat und um Verzeihung bitten muss. Wenn man gar keine solchen Konzepte hat, und sie ersetzt durch wissenschaftliche oder philosophische Metakonstrukte, dann macht man aus der Wissenschaft so etwas wie eine Parareligion. Dann wären wir etwa bei den modernen Atheisten.
Könnte man mit Max Weber sagen: Theologie ist Lebensweisheit – aber mehr nicht?
Doch, sie ist mehr! Theologie ist der Versuch, eine Grunderfahrung des Menschen, das Religiöse, zusammenzubringen mit dem Logos, dem Denken. Die Weisheit steckt da drin, aber die Theologie will auch in einer logischen Begrifflichkeit sich selbst und Anderen gegenüber Rechenschaft ablegen über diese Weisheit. Sie will Vernunft und Glauben zusammenbringen, ohne sie zu vermischen.
Was verstehen Sie persönlich unter «Glaube»?
Zum Aspekt der Lebensweisheit kommt hinzu, dass Religion wirklich mit Gottesglauben zu tun hat. Ich erlebe, dass diese Welt eine geheimnisvolle Tiefe hat, die mit dem Göttlichen verbunden ist. Direkter ausgedrückt: Die Welt hat ein Gegenüber, und dieses ist Gott. Ich meine keine naive, kindliche Vorstellung von einem alten Mann im Himmel mit weissem Bart. Aber auch nicht eine Art Pantheismus mit technischen Metaphern à la «Gott ist ein Kraftfeld» – im Gegenteil: das Persönliche Gottes ist wesentlich. Wichtig ist mir auch der theologische Gedanke: Wir können in der religiösen Suche nicht nur von uns, vom Subjektiven ausgehen; wir müssen etwas nachvollziehen, was gleichsam vorgedacht und vorgesprochen ist. Das ist das Göttliche.
Eine konkrete Gretchenfrage: Was kommt nach dem Tod?
Ich denke, wenn man an Gott glaubt, dann bedeutet der Tod tatsächlich nicht ein schwarzes Loch und die absolute Sinnlosigkeit. Aber ich glaube nicht, dass wir auf irgendwelche esoterische Art wissen können, was nach dem Tod kommt. Ich weiss es nicht. Für mich als gläubigen Menschen sind wirkliche Liebe und wirkliche Vergebung nicht nur Biologie und evolutionäre Reflexe, sondern diese Dinge haben mit meiner Geschöpflichkeit zu tun und verweisen auf die göttliche Liebe. Wie das, was ich durch meine Individualität, meine Kreativität und meinen Geist in diese Welt bringe, nachher vor Gott ist, weiss ich nicht. Aber ich habe Hoffnung, ich würde in dieser Frage keinen Schritt weiter gehen. Als Pfarrer ist für mich deshalb wichtig, dass ich bei einer Trauerfeier nicht den Leuten über das Jenseits erzähle, sondern dass ich den Verstorbenen symbolisch Gott übergebe. Ein anderes Konzept wäre, jemanden zu entsorgen. Fazit: Wenn man religiös ist, bleibt die Frage, was nach dem Tod kommt, offen – als Glaubensinhalt beantworte ich sie positiv, nicht als Wissen.
Gibt es Konflikte mit Kollegen in der Kirche, die sagen: Sie gehen zu weit in Ihrer Offenheit für Wissenschaft und Philosophie?
Nur ganz wenige Kollegen würden sagen, dass ich zu weit gehe. Eher wird vermutet, ich sei etwas konservativ, weil ich emphatisch versuche, Theologie zu betreiben. Ich versuche in einem strengen Sinne an die christliche Tradition anzuknüpfen, und das ist nicht irgendeine Tradition. Es gibt Theologen, die quasi sagen: Nein, das muss man postmodern sehen.
Zum Beispiel die Freikirche ICF?
Bei ICF fällt mir halt auf: Die haben gar keine wirkliche Theologie. Aber ich will das nicht schlechtmachen. Ich bin in diesem Sinne einfach altmodisch. Ich bin Bildungsbürger, höre klassische Musik und deshalb liebe ich die evangelisch-reformierte Kirche, die einen Spagat macht zwischen Tradition und Moderne.
Ich behaupte mal, wir leben in Zürich in einer eher von Unglauben geprägten Kultur. Wenn Sie zum Beispiel an der Bahnhofstrasse Kleider einkaufen gehen, fühlen Sie sich dann quasi im profanen Bereich, in fremden Gefilden?
Nein, das ist nicht meine Erfahrung. Eher in Intellektuellenkreisen ist offenbar die Norm: entweder Atheismus oder Agnostizismus. An der Universität fühle ich mich manchmal wie ein Indianer, weil einige Leute denken: Der gehört zu einer aussterbenden Spezies.
Passen Theologie und Uni noch zusammen?
Ich hoffe, dass unsere Theologen weiterhin an Unis ausgebildet werden. Und ich bin auch entgegen all dem SVP-Wust dafür, dass Imame an unseren Unis ausgebildet werden. Es gibt viele muslimische Menschen bei uns. Gibt es einen Grund, ihnen eine islamische Theologieausbildung an der Uni zu verweigern? Nein, natürlich nicht.
Wie schätzen Sie den islamistischen Terror ein?
Das sind reaktive Prozesse, Ressentiments, die gefährlich sind und die auch etwas mit uns zu tun haben. Die Islamisten sind nicht einfach nur voraufklärerische Dummköpfe.
Vielmehr werden solche religiöse Gefahren durch soziale Prozesse lebendig.
Denken Sie, dass Religion in Zukunft weiterhin eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen wird?
Ja. Mein tiefster Wunsch ist, dass dies eine gepflegte, zivilisierte Religion sein wird. Heisst: eine, die weiss, dass ein religiös neutraler Staat, ein religiös neutrales Recht und die individuelle Freiheit Errungenschaften sind, die es gerade aus christlicher Motivation zu verteidigen gilt. Und für eine gepflegte, rechtsstaatskompatible Religiosität braucht es Bildung.
Haben Sie als Pfarrer im Fraumünster Ihren Ort gefunden, oder zieht es Sie nochmals woanders hin?
Ich habe meine Rolle gefunden. Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf, und ich mache meinen Pfarrerberuf wahnsinnig gern. Ich bin im Verfassen meiner Predigten sehr frei hier, und ich glaube, ich habe die Aufgabe, meiner Gemeinde zu zeigen, was eine lebendige, offene Theologie sein kann. Und die vielen Gespräche geniesse ich sehr. Ich bin privilegiert, auch, dass ich hier im Pfarrhaus an der Limmat wohnen kann. Ich habe einen tollen Beruf.