Michèle Hirsig

Furcht vor der Angst und vor der Nicht-Angst

In einem aufrüttelnden Stück erzählt die Produktion der Theatergruppe KOLLEKTIV-20-14 die Geschichte des Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Pakkiyanathan Vijayashanthan, der 2007 nur knapp eine Entführung durch das tamilische Regime überlebte.

3. Dezember 2015

Geradezu unsicher scheint der Übergang von der Realität in die dramatische Illusion, die auf der Bühne des Teatro Di Capua entstehen soll. Er steht in einer subtilen Analogie zum Stück selbst; wo hört hier die Realität auf, wo beginnt die Fiktion - und ist überhaupt etwas fiktiv daran? Die Figuren in Michèle Hirsigs Stück Vijayan & René, so scheint es, wissen das selbst auch nicht so genau. So zerbricht der Ostschweizer Gutmensch und Denker René (René Grünenfelder) fast an der übermenschlichen Aufgabe, ein Schicksal wie jenes des Tamilen Vijayan (Pakkiyanathan Vijayashanthan) nachempfinden und verstehen zu können. Denn er, dessen grösste Sorge in der Kindheit darin bestand, dass seine Plüschtiere, die seinen Bettrand zierten, nicht verrutschten, bevor er selig einschlief, wird während seiner Gespräche mit dem politischen Flüchtling immer deutlicher mit der Tatsache konfrontiert, dass er von Krieg, Furcht und dem, was man tun oder nicht tun kann, eigentlich nicht wirklich etwas versteht.

Die Leichtigkeit des Kampfes

Ganz im Gegensatz dazu steht der Umgang des Tamilen mit seiner eigenen Geschichte: Denn wenn er auch mit der Vergangenheit hadert, wenn ihm auch die Angst vor Verfolgung bis heute in den Knochen sitzt, so weiss er doch: «Es gibt nur zwei Fixpunkte: geboren … und Tod.» Was man dazwischen anstellt, ist einem selbst überlassen. Und seine Lebensfreude muss einen nicht verlassen. In Anbetracht dessen treibt der Flüchtling René immer offensichtlicher in den Wahnsinn, wenn er sich trotz allem mit einem Grinsen an die frühere Armut, seine Freude an der Schaukel und anderes erinnert. Und der ungeduldige René, der doch so gerne etwas täte, irgendetwas, schaut ihm ungläubig zu, wenn er in Zeitlupe den mit LED-Lichtern verzierten Quader auf der Bühne abläuft, und ihm sagen will: entschleunigen, das ist es. Wir können nicht alles auf einmal, und nicht die grössten Probleme zuerst lösen.

Die Geschichte beschmutzen

Ein dramaturgisches Meisterwerk ist Vijayan & René in erster Linie dank der kläglichen Versuche Renés, die Erlebnisse seines politisch verfolgten Freundes zu verallgemeinern und in intellektuell angehauchte Begriffe zu verpacken. Begriffe, von denen einem sofort klar wird, dass «Viji», dessen Deutsch zwar gut, aber keineswegs perfekt ist, sie wahrscheinlich nicht versteht; ein Hinweis darauf, wie die Abstraktion, das Hinterfragen und Analysieren von kriegerischen Handlungen durch Erst-Welt-Länder so oft an genau der Realität, die sie beeinflussen wollen, vorbeidenkt. Das und die Tatsache, dass René ständig davon spricht, was man eigentlich alles ändern sollte, es aber vollkommen unklar scheint, wie das denn genau gehen sollte, steigern im Zuschauer die Wut auf diesen einfältigen Hinterwäldler, bis man sich an irgendeinem Punkt im Stück fragt: Was tue ich selbst eigentlich mehr? Bis zuletzt stellt sich die Frage: Was kann man tun, als Schweizer, Beschützter, Reicher? Was tut man anderes, als mit der Fixierung auf das, wovor man Angst hat, und das, was man nicht versteht, im Kreis zu laufen, wie es Pakkiyanathan Vijayashanthan an einer Stelle tut, um seinen Freund zu veräppeln? Und, einmal angenommen, ein Problem wird erfasst und eine Lösung entworfen; so stellt René immer wieder die treffende Frage: «Und jetzt?»

KOLLEKTIV-20-14: Vijayan & René. Nächste Aufführungen: 8./10./11./12./15. Dezember, 20:00 im Theater Keller 62 (www.keller62.ch)

Regie: Michèle Hirsig, mit Pakkiyanathan Vijayashanthan und René Grünenfelder