Juliana Maric

Wenn Rekruten mit albanischer Flagge posieren

Kijan Espahangizi forscht zu postmigrantischen Gesellschaften. Aufzeichnung eines Gesprächs kurz vor der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative.

25. November 2015

«Was bedeutet es, wenn Secondos in schweizerischer Militäruniform die albanische Flagge zeigen und darauf eine Debatte um nationale Zugehörigkeit entbrennt? Mit solchen Fragen beschäftigten sich Forschende wie ich, die zur sogenannten ‹postmigrantischen Gesellschaft› arbeiten. Der Hintergrund dieser Untersuchung ist, dass sich die Schweiz durch Migration seit dem Zweiten Weltkrieg auf verschiedensten Ebenen verändert hat – von der Bevölkerungszusammensetzung über Lebenswelten bis hin zu Konsumgewohnheiten. Gleichzeitig tun sich manche schwer, dies wirklich anzuerkennen. Darum betont das ‹post› in ‹postmigrantisch›, dass dieser gesellschaftliche Wan-del längst Realität ist, weiter markiert es eine kritische Distanz zum öffentlichen Migrations- und Integrationsdiskurs. Dieser konzentriert sich zu sehr auf die Menschen mit Migrationshintergrund statt auf die Gesellschaft als Ganzes.

In der Schweiz wird Integration oft entweder als Assimilationsforderung an ‹die Ausländer› oder unter arbeitsökonomischen Aspekten diskutiert. Fragen der kulturellen und politischen Teilhabe, etwa in Form von Bürgerrechten, werden hingegen meist übergangen. Das Recht hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich an die neue postmigrantische Realität angepasst. Das hat auf die Dauer dazu geführt, dass jede vierte Person hier kein Bürgerrecht hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es erst jede zwanzigste Person. Das ist auch eine Folge von hohen Hürden bei der Einbürgerung.

Klar gibt es jene, die sich einbürgern lassen könnten, es aber nicht tun. Viele, die hier geboren und aufgewachsen sind, empfinden es als entwürdigend, einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen und dann noch dafür zu zahlen. Anstatt dies ernst zu nehmen, wird es als Beweis genommen, dass viele ‹Ausländerinnen und Ausländer› gar nicht mitreden wollen.

Neben rechtlichen Aspekten geht es auch um die kulturell vorherrschenden Vorstellungen und Narrative von Zugehörigkeit. Es wird häufig eine Forderung nach Assimilation erhoben, wobei oft unklar ist, wer genau sich woran anpassen soll. Die Mehrfachzugehörigkeiten, die für viele heute normal sind, werden entweder ignoriert oder als Problem wahrgenommen – etwa im Fall der albanisch-stämmigen Rekruten. Secondos und Secondas werden mal als Vorzeige-Assimilierte, mal als kriminelle Ausländerinnen und Ausländer ‹durchs mediale Dorf der Schweiz getrieben›. In den Debatten ist kaum Platz für eine differenzierte, ergebnisoffene Auseinandersetzung mit der komplexen Vielfalt und den Ambivalenzen postmigrantischer Gesellschaften. Die Schweiz wird jedoch nicht daran vorbeikommen, sich den neuen Lebensrealitäten zu stellen. Der Wahnsinn der Durchsetzungsinitiative zeigt: Es braucht ein grundlegendes Umdenken.»

Zur Person:

Kijan Espahangizi studierte Physik und Geschichte in Köln und Sevilla. Vor zehn Jahren ist er nach Zürich gezogen. Seit 2010 ist er Geschäftsführer des «Zentrums Geschichte des Wissens» von ETH und Universität Zürich. Espahangizi ist Mitglied des Deutschen Rates für Migration und engagiert sich unter anderem im Projekt «Wir alle sind Zürich!» für eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und Diskriminierung.