Universitätsspital Zürich

Studieren im Spital

Medizinstudierende sollen vor dem Staatsexamen ihr Wissen in der Praxis vertiefen. Ein Tag mit «Uhu» Fabia im Triemli.

25. November 2015

Der Tag beginnt kurz nach 8 Uhr mit einer langen Reihe von Namen, Abkürzungen und Zahlen. Hinter den Codes verbergen sich Patientinnen, manchmal auch schwere Schicksale. Das Tempo ist hoch, alle sprechen schnell, sind routiniert, nach einer knappen Viertelstunde ist der Rapport vorbei. Zweimal pro Tag tauschen sich die Ärztinnen und Ärzte so über alle Patientinnen aus. Fabia hört vor allem zu. Sie arbeitet seit zwei Wochen als Unterassistentin in der Gynäkologie des Stadtspitals Triemli, insgesamt wird sie vier Wochen hier bleiben. Davor war sie in der Inneren Medizin in einem kleineren Spital in der Ostschweiz, danach kommt die Psychiatrie, dann Chirurgie, Anästhesie, Rheumatologie.

Fabia ist mitten in ihrem Wahlstudienjahr: An der Universität Zürich verbringen alle Medizinstudierenden das fünfte Jahr in Spitälern, Kliniken und manchmal auch bei Hausärztinnen und Hausärzten. Nachdem sie vier Jahre lang den gesunden und den kranken Menschen studiert haben, arbeiten sie jetzt das erste Mal praktisch. Im sechsten Jahr müssen sie zurück hinter die Schulbank. Das ist eine Zürcher Spezialität: Die praktischen Erfahrungen sollen vor dem Staatsexamen noch einmal theoretisch vertieft werden. Dafür starten die Studierenden ziemlich unvorbereitet in das Wahlstudienjahr. «Wir aus Zürich sind schweizweit dafür bekannt, dass wir viel wissen, aber wenig praktische Erfahrung haben», so Fabia.

Ganz unten in der Hierarchie

«Uhu» werden die angehenden Ärztinnen und Ärzte im Wahlstudienjahr genannt. Was nichts mit dem Vogel zu tun hat, sondern mit einem Hund: dem Unterhund. Der Name lässt erahnen, dass die Uhus in der ärztlichen Hierarchie ganz unten stehen. Sie müssen sich deshalb auch mal harsche Worte gefallen lassen, von einem genervten Assistenzarzt oder einer ungeduldigen Oberärztin. Für Fabia gehört das dazu, auch wenn sie es selbst noch nicht so oft erlebt hat: «Mir ist bewusst, dass ich Fehler mache und Vieles noch nicht weiss. Ich bin ja zum Lernen hier.» Der Name zeigt aber auch, dass die Uhus für all jene Dinge zuständig sind, auf die die nächsthöhere Stufe keine Lust hat: zum Beispiel Krankenakten von A nach B transportieren, ein verschwundenes Messgerät aufspüren oder im OP die Haken halten – auch mal bis tief in die Nacht. Das Ganze für einen so kleinen Lohn, dass ohne Eltern, die den Lebensunterhalt bezahlen, oder ohne ein Stipendium nichts geht. Das scheint den meisten Medizinstudis nach vier Jahren Vollzeitstudium kaum mehr aufzufallen.

«Im Spitalalltag kann es manchmal ziemlich langweilig sein, wenn gerade keine Operation und keine Geburt ansteht», erzählt Fabia. Obwohl es im Triemli fast immer etwas gibt, bei dem sie zumindest zusehen darf. Manchmal werden die Unterassistierenden im unübersichtlichen Krankenhausbetrieb auch alleine gelassen. So kann man es sich, wenn man will, recht gemütlich machen. Oder auch nicht: «In dem kleinen Regionalspital, wo ich die letzten zwei Monate gearbeitet habe, hatte ich wegen Personalmangel sehr viel zu tun. Dafür durfte ich auch kleine Eingriffe selber ausführen.» Natürlich immer unter Aufsicht: Jede Handlung eines Uhus wird mindestens doppelt kontrolliert, von einer Assistenzärztin und einem Oberarzt. Das entlastet.

Aus Erfahrungen lernen

Was auf jeder Station auf dem Programm steht, sind die morgendlichen Visiten. Die Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachfrauen gehen von Zimmer zu Zimmer, von Patientin zu Patientin. Fabia schaut dem Leitenden Arzt über die Schulter, heute geht alles blitzschnell. Grüezi, geht es Ihnen gut, wir haben alles im Griff, adieu. Viel gelernt hat Fabia diesmal nicht. Wenn man im Spital etwas lernen will, dann muss man es einfordern. Gelehrt und gelernt wird immer. Die Oberärzte lernen von der Chefin, die Assistenzärztinnen von den Oberärzten und die Uhus dann eben von den Assis. Ausbildung im Spital, das ist Austausch mit denen, die mehr Erfahrung haben als man selbst. Und was diese sagen, gilt. Es scheint, als lerne man im Medizinstudium, nicht zu diskutieren. Wer vorne steht, sagt die Wahrheit. Was die Studis aber lernen sollen, ist der Umgang mit den Patientinnen und Patienten.

Fabia nimmt nach der Visite eine neu eingetretene Patientin auf: Welche Medikamente nehmen Sie? Haben Sie zuhause einen Lift? Darf ich Ihren Bauch abtasten? Fabia hat schon nach weniger als drei Monaten einiges an Routine. «Es kommt aber ziemlich oft vor, dass die Patientinnen die Ärztinnen mit Pflegefachfrauen verwechseln. Das passiert unseren männlichen Kollegen natürlich nie.» Sie zuckt mit den Schultern. Offenbar gehört das dazu – obwohl schon seit Längerem mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium abschliessen.

Eine Menge Schreibarbeit

Es wird an diesem Tag Fabias einziger direkter Kontakt mit einer Patientin bleiben. Weil heute keine OPs anstehen, verbringt sie den Nachmittag am Computer im Stationsbüro. Der Raum, den sich zwei Assistenzärztinnen und die Unterassistentin teilen, ist klein, die frische Luft schnell aufgebraucht. An der Wand hängt ein Druck von Rothko, daneben ein vergilbtes Ultraschallbild: Ein Fötus zeigt den Arschlochfinger. Überall Zettel mit Informationen, Telefonnummern, Listen. Im Spital lernt man viel darüber, wie die administrativen Prozesse funktionieren. Auch das gehört zum Job. Der Arztberuf bringt eine Menge Schreibarbeit mit sich: Fabia bereitet unter anderem die Krankengeschichten von Patientinnen vor, die bald operiert werden. Das bedeutet: copy-pasten und zur Abwechslung die kaum leserliche Schrift der Ärztin aus dem Ambulatorium entziffern.

Heute endet der Tag schon kurz nach 16 Uhr – mit dem zweiten Rapport des Tages, diesmal mit der Chefärztin. Und wieder mit einer langen Reihe von Namen, Zahlen, Abkürzungen. Die Schicksale hinter den Codes lassen die Medizinerinnen nicht kalt, das merkt man ihnen an. Trotz Routine.