Politik mit Maulkorb

Der Verband der Studierendenschaften der Schweiz (VSS) sollte alle Studierenden vertreten. Doch allein im letzten Jahr haben drei Sektionen ihren Austritt beschlossen. War er zu politisch?

25. November 2015

Dem VSS laufen die Mitglieder davon. Eigentlich will der Verband die Interessen aller Studierendenschaften auf nationaler Ebene vertreten. Nun hat aber Ende 2015 nach Basel und Luzern mit Fribourg bereits die dritte Sektion innerhalb eines Jahres ihren Austritt beschlossen; in Basel wurde er nur durch eine Abstimmung unter allen Studis noch abgewendet.

Von den 23 funktionierenden Studierendenschaften in der Schweiz sind heute nur 9 Mitglied im VSS – seit längerem schon fehlen grosse Unis wie die Universität Genf und die Hochschule St. Gallen (HSG). Offizieller Grund für die Austritte der letzten Monate waren die hohen Mitgliederbeiträge: Der VSS wolle zu viel Geld und leiste dafür zu wenig.

Was heisst hier politisch?

Doch es steckt neben finanziellen Abwägungen ein weiterer Grund hinter den Austritten. Der VSS sitzt in Bundesbern mit am Verhandlungstisch – wenn es zum Beispiel um Sparmassnahmen geht. Damit ist der VSS für einige Studierende offenbar zu «politisch».

Die Pro Iustitia, Vertretung der Jus-Studierenden im Luzerner Studierendenrat, schreibt in ihrem Austrittsantrag: «Es sollte mehr Gewicht auf Themen gelegt werden, die wirklich von studentischem Interesse sind und nicht politisch motiviert.» Der Präsident der Studentenschaft der HSG, Dardan Zeqiri, will sich in Zukunft zwar für VSS-Projekte engagieren, die einen «nachhaltigen gesellschaftlichen Dienst» leisten. Mitglied im Verband will man in St. Gallen jedoch auch nicht sein: «Der VSS ist eine politische Organisation, was wir laut Statuten nicht sein dürfen. Wir äussern uns nur zu universitätspolitischen Themen.»

Aber lassen sich Unipolitik und «echte», nationale Politik klar voneinander abgrenzen? Und ist eine Abkehr von der nationalen Politik nicht auch politisch? Die Vermutung drängt sich auf, dass «politisch» mit «links» gleichgesetzt wird. Denn die Vorstellung eines linken VSS hält sich hartnäckig, obwohl sich dieser zu politischer Neutralität verpflichtet: Weil die, die sich besonders für den VSS einsetzen, eher links gesinnt sind.

Das Hirngespinst

Zurzeit ist ein linker VSS aber eher ein Hirngespinst. «Es gibt unter den Sektionen eine Mehrheit für völlige Neutralität», sagt Tobias Hensel, Vorstandsmitglied des VSS. «Das führt zum Beispiel aktuell dazu, dass wir uns zur Durchsetzungsinitiative nicht äussern.» Wird dem VSS-Vorstand also ein Maulkorb angelegt? Auf jeden Fall führt die Neutralität dazu, dass der Verband öffentlich kaum in Erscheinung tritt. Genau hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Die Mitglieder entscheiden, dass der Verband sich nicht zu aktuellen Themen äussert. Die alltägliche Arbeit in den politischen Gremien kann aber schwer sichtbar gemacht werden, so entsteht kaum öffentliche Wahrnehmung. «Und deshalb fragten sich die Sektionen vielleicht: Was machen die vom Vorstand eigentlich? Und sind ausgetreten», kritisiert Hensel. Offenbar glauben diese Studierendenschaften, dass sie ihre Interessen auch ohne Hilfe des Verbands auf dem nationalen Polit-Parkett vertreten können. Dem widerspricht Sylvie Matter, früher Präsidentin des Studierendenrats in Zürich und heute SP-Kantonsrätin, vehement: «Der VSS wird in Bern als Ansprechpartner geschätzt und ernst genommen. Einen Platz am Verhandlungstisch bekommt man nicht einfach so über Nacht.»

In Zukunft will der VSS laut Hensel Themen finden, für die alle geeint kämpfen können. Bleibt ihm also nichts Anderes übrig, als sich nur noch zu Themen zu äussern, die im engsten Sinne unipolitisch sind – zum Beispiel zur Verbesserung der Lehre? Oder sich humanitär zu engagieren, wie im neusten VSS-Projekt «Studentische Hilfe für studentische Flüchtlinge»? Solche Initiativen sind relevant und wichtig. Genau wie ein Hund mit Maulkorb macht ein «unpolitischer» Verband den nationalen Politprofis aber weniger Angst.

Der VSS

Der Verband der Studierendenschaften der Schweiz wurde 1920 in Zürich gegründet. Er vertritt seither die «materiellen und ideellen Interessen der Studierenden» auf nationaler und internationaler Ebene: Der Verband hat Einsitz in den wichtigsten hochschulpolitischen Gremien. Mitglied im Verband können alle Studierendenschaften der Schweiz werden. Die Mitgliederbeiträge dieser Sektionen werden nach der Grösse der jeweiligen Studierendenschaft sowie nach der Höhe ihrer Einnahmen berechnet. Sie können mehrere 10'000 Franken betragen. Nach aussen wird der VSS durch die Geschäftsleitung und einen achtköpfigen Vorstand repräsentiert. Zweimal im Jahr werden an einer Delegiertenversammlung von allen Sektionen gemeinsam die wichtigsten Entscheidungen getroffen.