«Es wird nie materielle Gerechtigkeit geben»
Seit letztem Herbst ist Silvia Steiner Bildungdirektorin des Kantons Zürich. Ein Gespräch über Chancengleichheit, Feminismus – und übers Sparen.
Vor dem Gespräch wurde uns gesagt, dass Sie nicht übers Sparen sprechen werden.
Meine Mitarbeiterin hat Ihnen gesagt, dass wir unsere genauen Sparmassnahmen nicht bekanntgeben können, bevor der Regierungsrat darüber befunden hat. Über eine konstruktive Spardiskussion bin ich aber froh. Ich sehe es als falsch an, sich auf den Standpunkt zu stellen: Wir sparen überall, nur nicht bei der Bildung. Ich finde es aber gut, dass man auf die Risiken hinweist und die Bildung als wichtiges Gut hochhält. Dass sich viele Schüler und Studenten am «Tag der Bildung» eingebracht haben und ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen haben, habe ich begrüsst. Damit haben sie auch gezeigt, dass sie politische Verantwortung übernehmen wollen.
Der Bund will in den nächsten drei Jahren im Bereich Bildung, Forschung und Innovation rund 500 Millionen sparen. Dies wird wohl dazu führen, dass die Universitäten mehr private Drittmittel einwerben müssen. Besteht da nicht die Gefahr, dass nur noch finanziert wird, was unmittelbar für die Wirtschaft einen Nutzen hat?
Nein. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass es zu gewissen Verschiebungen kommt, wenn der Bund spart: nicht nur in die Privatwirtschaft, sondern vor allem auch zum Kanton. Es ist unsere Uni, sie gehört dem Kanton Zürich. Und für etwa 20 Prozent der begabten jungen Menschen ist ein universitäres Studium der Weg, um ins Berufsleben zu starten. Wir müssen verhindern, dass die Uni absolut von privaten Geldgebern abhängig wird. Der Kanton muss die Angebotsvielfalt gewährleisten.
Das heisst der Kanton ist auch bereit, mehr Geld in die Hochschulen zu investieren, wenn der Bund Mittel kürzt?
Der Kanton wird sich überlegen, wie er das finanziert. Wenn Sie ein beschränktes Haushaltsbudget haben, dann drehen Sie doch auch jeden Franken zweimal um. Das mache ich als Bildungsdirektorin auch mit dem Geld, das nicht mir gehört, sondern dem Steuerzahler. Ich erwarte, dass die Uni sich für Einbussen wappnet. Die Uni muss entscheiden, in welchen Bereichen wir international top sein wollen. Das heisst dann aber auch, dass wir auf Bereiche, in denen wir nur Durchschnitt sind, verzichten. Ich rede jetzt nur von der Forschung. In der Lehre ist klar definiert, was gelehrt werden soll – und das möchten wir natürlich auch in einer guten Qualität weiter tun.
Sie würden sich also dafür einsetzen, dass auch Fächer erhalten bleiben, die keinen unmittelbaren Nutzen für den Wirtschaftsstandort Zürich oder keine internationale Ausstrahlungskraft haben?
Ja, sonst dürfte es ja an der Uni nur noch Spitzenmedizin geben. Dort sind wir ja wirklich top. Aber für mich sind die anderen Fächer auch essenziell. Fächer, von denen man weiss, dass man sie zwar studieren kann, dass man aber mit einem solchen Studium nie von einem Grossbetrieb mit einem riesigen Jahresgehalt angestellt wird. Die Freiheit, materielle Fragen nicht so stark zu gewichten, muss gegeben sein. Und das garantiert man mit der Fächervielfalt. Wir müssen ihr deshalb Sorge tragen.
Weshalb haben Sie denn damals Jus studiert?
Ich habe Jus studiert, weil ich mir damit gute Grundlagenkenntnisse aneignen konnte. Und ich hatte damals, mit 20, noch meine Ideale von der Gerechtigkeit.
Glauben Sie heute nicht mehr an Gerechtigkeit?
Im Studium habe ich an Gerechtigkeit geglaubt, in der Praxis sieht das heute manchmal etwas anders aus. Es wird nie eine vollumfängliche materielle Gerechtigkeit geben. Dafür ist unsere Welt viel zu vielfältig. Das ist in der Schule ja schon so. Die Lehrer hätten gerne Chancengleichheit für alle Kinder. Aber Sie können mir doch nicht sagen, dass ein Kind mit einem IQ von 80 die gleichen Chancen hat wie eines mit einem IQ von 120.
Chancengleichheit bezieht sich ja auch auf wirtschaftliche Faktoren.
Aber Ihre persönliche Prädisposition hat ganz viel damit zu tun, was Sie erreichen können und was nicht. Unser System schafft den Ausgleich, damit diejenigen, die dazu in der Lage sind, ein Hochschulstudium absolvieren können, auch wenn sie das Geld dafür nicht haben.
Dann müsste das Stipendienwesen einfach noch ein bisschen besser funktionieren, als es dies jetzt tut?
Nein, es funktioniert gar nicht so schlecht.
Es gibt viele Stimmen, die das Gegenteil sagen.
Das ist eben die Frage: Sind das viele Stimmen, die das sagen? Oder sind es tragische Einzelschicksale, denen unser Stipendienwesen nicht in jeder Hinsicht entspricht?
Können Sie jemanden verstehen, der sagt: Es ist ungerecht, dass ich nicht studieren kann, weil ich es mir nicht leisten kann?
Das wäre ungerecht, wenn es so wäre, aber es ist nicht so.
Im Kanton Zürich stimmen wir Ende Februar über die Bildungsinitiative ab, die unter anderem die Studiengebühren abschaffen will. Was meinen Sie dazu?
Das ist der falsche Weg. Das, was die Studierenden viel kostet, ist der Lebensunterhalt. Wegen der Semestergebühren macht sich wahrscheinlich nur ein ganz kleiner Teil der Studenten wirklich existenzielle Sorgen. Für diese bietet das vor kurzem revidierte Stipendienwesen eine gute Möglichkeit der Unterstützung. Denen, die es brauchen und wollen, soll man unter die Arme greifen. Wir sind uns ja einig, dass es auch Studenten gibt, die die Gebühren relativ locker bezahlen.
Sie haben selber in Zürich studiert. Wie war es, wieder an die Alma Mater zurückzukehren, diesmal als oberste Chefin?
Das war speziell. Eine Art Heimkehr. Viele Dinge sind vertraut, obwohl es ja schon eine Weile her ist.
Trotz der vielen Reformen hat sich gar nicht so viel geändert?
Nein, letztlich lebt das Bildungswesen davon, dass ein Mensch seine Erfahrungen und seine Kenntnisse einem jüngeren Menschen weitergibt. Daran wird sich nie etwas ändern. Die Persönlichkeiten, die das Know-how vermitteln, sind der Kern unseres Bildungssystems. Nicht die Politiker, die zum Beispiel sagen, wie viele ausländische Post-Docs sie wollen oder nicht.
Sie haben sich in Ihrer Karriere oft mit Gender-Themen beschäftigt. An der Universität Zürich steht es in Sachen Gleichstellung nicht zum Besten: 2014 gab es nur 21 Prozent Professorinnen. Was läuft da schief?
Die Voraussetzungen für Gleichstellung wären theoretisch gegeben. Wir als Gesellschaft sind wahrscheinlich einfach noch nicht so weit. Ich bedaure es wirklich sehr, dass der Frauenanteil – gerade bei den Professorinnen – noch unter dem ist, was ich mir vorstellen würde.
Wäre eine so grosse Institution wie die Uni Zürich nicht in der Position, Strukturen zu schaffen, die es zum Beispiel beiden Elternteilen ermöglichen würden, mehr Teilzeit zu arbeiten?
Es werden bereits Teilzeitmodelle erarbeitet. Aber es ist einfach im Moment ganz schwierig: Wenn wir eine Professur ausschreiben, haben wir am Schluss häufig einfach nur noch Männer als Bewerber. Das ist ein Fakt. Oft wird gesagt, man solle bessere Kinderbetreuung anbieten. Darin allein sehe ich aber keine Lösung für jene Eltern, die gerne Zeit mit ihrer Familie verbringen möchten.
Haben Sie Pläne, sich als Präsidentin des Unirats in diesem Bereich zu engagieren?
Nein, nicht, wenn es um operative Fragen geht. Aber wir haben gerade kürzlich die Berufungsstatistik bekommen, und da müssen wir einfach sagen: Wir sind gendermässig noch nicht da, wo wir sein wollen. Dieses Problem muss man wirklich gezielt angehen. Was die feministischen Bemühungen auch nicht einfacher macht, ist die Problematik, dass wir mit der Zuwanderung zum Teil auch veraltete Frauenbilder importieren.
Wobei solche veraltete Frauenbilder auch in unserer Gesellschaft tief verankert sind.
Das mag stimmen. Es stört mich allgemein, dass das Pendel in Bezug auf die Sensibilisierung zurückschlägt. Viele Männer finden Frauenförderung und Quoten unnötig oder gar völlig daneben. Auf der anderen Seite sind Frauen mit dem nötigen Führungspotential auch ausgesprochen bescheiden. Viele sagen: Diesen Job, den möchte ich gar nicht. Ich bin eigentlich zufrieden mit dem, was ich habe. Unter solchen Umständen zielt Frauenförderung ins Leere.
Was müsste getan werden?
Wir müssen Frauen und auch Männer dazu befähigen, miteinander zu arbeiten, obwohl ihre Arbeits- und Denkweisen unterschiedlich sind. Frauen können gewisse Sachen besser machen als Männer, und das kann man für seine eigenen Interessen nutzen. Sobald diese Erkenntnis durchdringt, funktioniert es. Es ist ganz wichtig, dass die Frauen im Berufsleben und in unserer Gesellschaft nicht nur einen umfassenden Auftrag, sondern vor allem auch Verantwortung und die entsprechenden Kompetenzen bekommen.
Das Gespräch führte Laura Cassani mit Mario Vukadin
Zur Person:
Silvia Steiner, geboren 1958, studierte Jus in Zürich und promovierte in Lausanne zu Häuslicher Gewalt. Steiner war KriPo-Chefin und Staatsanwältin. Seit Herbst 2015 ist die CVP-Politikerin Zürcher Regierungsrätin – und als Bildungsdirektorin automatisch Präsidentin des Universitätsrats, des obersten Organs der UZH. Zu dieser Doppelrolle sagt sie: «Ich bin das Bindeglied zwischen Politik und Uni.»