Filmstill «1001 Nacht – Der Entzückte»

Die unendlichen Geschichten

Regisseur Gomes erzählt ein Märchen von echten Menschen in der Finanzkrise in Portugal. Nicht nur symbolisch geht es dabei ums Überleben.

25. November 2015

Am Anfang haut der Regisseur und Protagonist der ersten Szene einfach ab. Schliesslich bekennt er aus dem Off, wie hirnrissig sein Projekt – einen «Sozialinterventionsfilm» zu drehen – sei, wenn er doch eigentlich «wundervolle Geschichten» erzählen will. Nur konsequent also, dass er die Bildfläche der Märchenkönigin Scheherazade aus 1001 Nacht überlässt. Nacht für Nacht saugt sie sich eine Story aus den Fingern, um am Leben zu bleiben. Denn ihr Ehemann, der König von Persien, hat die üble Angewohnheit, seine Ehefrauen in der Hochzeitsnacht zu töten.

Doch der Regisseur Miguel Gomes erzählt keine Märchen aus dem arabischen Mittelalter, sondern von der Tragik der Menschen während der Finanzkrise in Portugal im Jahr 2013. Scheherazade bietet lediglich das Erzählgerüst, die fantastische Klammer für wahre Begebenheiten. Sein episches Werk umfasst drei Filme und ist dem magischen Realismus verschrieben: Sprechende Hähne, Plüschkostüme, Magier und Windgeister mischen die «wahren» Geschichten auf. Gomes verzaubert in seinen meist halbstündigen Episoden alltägliche Bilder mit märchenhaften Elementen. So unterschiedlich diese Geschichten auch sind – er nimmt immer die Perspektive der «kleinen Leute» ein.

Nicht ganz wahr ist das für die Erzählung der «Männer mit dem Steifen» aus dem ersten Film «Der Ruhelose». Ein aus dem Nichts auftauchender Magier verzaubert darin die strengen Vertreter der Troika, die die portugiesische Regierung zu einem Sparprogramm zwingen. Mit einer dauerhaften Erektion versehen, entspannen sich die Technokraten.

Alles scheint möglich: Lohnerhöhungen, Rentenzahlungen, Schulden machen. Doch für die Lösung des Erektionsfluchs fordert der Magier schliesslich horrende Zinsen, und so bleibt Portugal am Ende doch nur wieder die rigorose Sparpolitik.

Gesprengte Verlegenheit

Aber das sind nicht die stärksten Geschichten Scheherazades oder besser Gomes’, denn wirklich zur Geltung kommt seine ruhige Erzählweise, wenn sie fast dokumentarisch dem Schicksal der Menschen nachfühlt. Wenn zum Beispiel ein Gewerkschaftsfunktionär, der versucht, den traditionellen Neujahrsschwumm der Gewerkschafter aufrechtzuerhalten, die Lebensgeschichte von Arbeitslosen erzählt bekommt. Irgendwo dazwischen explodiert noch ein gestrandeter Wal. Eine Verlegenheitslösung, glaubt man Gomes’ «Logbuch» zum Dreh: «Ich verlange, dass man mir einen Wal baut. Ich empfehle jedem Filmregisseur, der in der Tinte sitzt, sich einen Wal bauen zu lassen. Damit lässt sich stets ein wenig Zeit gewinnen.»

Das alles erscheint planlos. Doch genau so muss man sich den Produktionsprozess wohl vorstellen: «Am Anfang stand ein gefaktes Skript. Das war ein gutes Verkaufsargument. Ein Jahr Dreh über Portugal in der Krise», erklärt der Produzent Luís Urbano. Doch was das heissen sollte, sei völlig unklar gewesen. «Allen war bewusst, dass das Skript ein Fake war. Das brauchten wir nur, um das Geld aufzutreiben.» Was das Publikum letztlich im Kino sieht, ist das Kaleidoskop einer Gesellschaft, zusammengewürfelt aus der Notwendigkeit, Geschichten zu erzählen. Notwendig, um zu überleben. Scheherazade steht in der insgesamt über sechsstündigen Erzählung auch als Symbol für die Entstehung der Filme. «Auf eine Art war ich im Produktionsprozess Scheherazade», sagt Urbano, der immer wieder Geld für das letztlich drei Millionen Euro schwere Projekt auftreiben musste. «Geld für dieses Projekt nach Portugal zu bringen, war die einzige Möglichkeit, unsere Arbeit zu machen», meint Urbano. «1001 Nacht», die Filmproduktion über die Krise und die Menschen, die sie ausbaden müssen, wurde zur wichtigen Arbeitgeberin. Dahinter steht eine starke Verpflichtung seinem Land gegenüber. Und das spürt man in jeder Minute Film.

Verzweifeltes Gericht

In der Mitte des Gesamtwerks wird Gericht gehalten mit diesem Land und seinen Menschen. Der Schauprozess im antiken Amphitheater beginnt mit der Klage wegen eines illegalen Möbelverkaufs und endet in der Verstrickung des gesamten Publikums in verwerfliche Verbrechen. Gomes’ schräger Humor treibt hier seine wahnwitzigsten Blüten, wenn etwa eine Verbrecherbande mit dämonischen Masken offenherzig all ihre Vergehen gesteht. Die gerechte Richterin verzweifelt an der Schändlichkeit ihres Publikums derart, dass nicht mal ein Richtspruch, sondern nur ihre Tränen bleiben. Die Szene ist als verzweifelter Versuch zu lesen, der Krise Herr und aus ihr schlau zu werden.

Auch wenn Gomes oft tief ins Fantastische abdriftet, basieren all seine Geschichten auf wahren Begebenheiten. Etwa der Selbstmord eines Ehepaars in einem ärmlichen Vorort von Lissabon, mit dem der Besitzerwechsel eines überdurchschnittlich charmanten Hundes einherging. Gefilmt wurde die Szene tatsächlich im Hochhaus, in welchem das Paar gewohnt hatte. Doch auch hier sind das Bestechende die kleinen Details, die das Haus ausmachen und die Gomes fast unterverkauft: der Durchzug zwischen den Wohnungen D und E; die Zwangsräumung von 8 F etc. Von diesen poetischen Alltäglichkeiten könnte der Film mehr gebrauchen.

Zu viel Fiktion

Stattdessen lernen wir im letzten Part viel von der Märchenkönigin, die des Erzählens müde wird. Sie bricht aus, macht Ferien auf dem fiktiven Archipel Bagdad, treibt sich mit Landstreichern herum und findet schliesslich im Gespräch mit ihrem Vater wieder Kraft, weiterzumachen. Und so erzählt sie uns noch die Geschichte der Vogelfänger aus einem anderen Vorort Lissabons. Statt in der Krise eine Revolte anzuzetteln, hegen und pflegen die arbeitslosen Herren ihre Buchfinken. Ein eskapistisches, sensibles Hobby, das sie von der Gnadenlosigkeit der Realität ablenkt wie Scheherazades Geschichten ihren Ehemann von seiner kuriosen Angewohnheit, Jungfrauen zu töten. Solange die Vögel singen, ist alles in Ordnung. «Und Scheherazade verstummt bei Anbruch des Tages.» Noch hat sie längst nicht 1001 Geschichten erzählt. Ob es eine Fortsetzung des Projekts geben wird, lässt Produzent Urbano offen. Man wolle Scheherazade nicht für Portugal monopolisieren. Sie gehöre uns allen – genauso wie die Krise.

Gomes' Trilogie ist absolut sehenswert, vor allem dann, wenn er nicht krampfhaft versucht, lustig oder unkonventionell zu sein. Die Längen dazwischen nimmt man in Kauf. Immerhin werden dabei schöne Kostüme getragen.

«1001 Nacht» – Die Trilogie von Miguel Gomes ist im Kino Houdini zu sehen.

Gewinne Tickets: Mail an redaktion@medienverein.ch, Betreff «1001 Nacht».