Sina Jenny

Blog und Buch

Wird das Eine durch das Andere ersetzt? Ein Blick in den literarischen Dschungel des Internets.

25. November 2015

Lesen wir noch oder starren wir bloss? Bücher gehören der Vergangenheit an, heisst es. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, so scheint es sich täglich zu bewahrheiten. Smombies (Smartphone-Zombies) suchen Trams, Schulen und Familienfeiern heim. Aber was spielt sich eigentlich auf unseren Smartphones, Tablets und Laptops ab?

Neben Candy Crush und Minecraft gibt es zahlreiche News- und Magazin-Apps, die bilden und inspirieren sollen. Das Internet mit seinen kostenlosen Romanen und kunstvollen Blogs wird immer stärker und der Buchhandel schwächer. Seit 2007 wurden 15% weniger Bücher verkauft, wie der Marktreport 2014 des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes zeigt. Die Nutzung von Social-Media-Kanälen steigt stetig an, und genau dort lassen sich überraschenderweise wahre literarische Schätze finden. Florian Kessler vom Hanser-Verlag aus München meint: «In den besten Augenblicken sind Blogs, Netzfeuilletons, Twitter, Facebook etc. so etwas wie eine dynamische, allen offene Literaturzeitschrift mit angehängter geschwätziger Literaturbetriebs-Gerüchteküche.» Das findet er gut. Eröffnen wir das Geschwätz!

Zeitgeist

Der Amerikaner Eric Jarosinski war Professor für deutsche Literatur und Philosophie an der University of Pennsylvania. Er war unglücklich im Akademiker-Dasein, also begann er seine «utopischen Negationen» in einer Mischung aus Deutsch und Englisch auf Twitter zu posten. Mit seinen kurzen, philosophischen Beiträgen bewegt er sich jenseits vom Trend der ewig positiven Parolen, die einem signalisieren, nie gut genug zu sein. Sein unverwechselbarer Ton wurde rasch zum Phänomen. Heute folgen NeinQuarterly über 100'000 Menschen aus der ganzen Welt, seine «Ideologie des Alltags» erscheint in der «Zeit», und im Herbst dieses Jahres veröffentlichte der Berufs-Twitterer seine Aphorismen im Buch «Nein. Ein Manifest». Momentan ist er schon auf seiner zweiten internationalen Lesetour. Jarosinski schaffte als Mittvierziger den Sprung vom unglücklichen Assistenzprofessor zum gefeierten ZeitgeistPhänomen.

«dj eldest immigrant daughter»

Warsan Shire wurde nicht über Twitter bekannt, auch wenn sie dort mit ihrem lyrischen Talent tausende von Followern beglückt. Die 26-Jährige hat somalische Eltern, wurde in Kenia geboren und wuchs in London auf. Das Leben zwischen den Kulturen spürt man in ihren Texten – immer wieder ist die Rede von der Suche nach Heimat und deren Definition. Mit dieser Wurzellosigkeit spricht sie wohl Vielen aus dem Herzen, die sich weder mit der Kultur ihrer Eltern noch mit der ihres Wohnortes gänzlich identifizieren können. Shire ging den konventionellen Weg, wenn man so will. Sie gewann mit 16 einen internationalen Poetry Slam, studierte Kreatives Schreiben und gab Lesungen ihrer Gedichte auf der ganzen Welt. Ihre Werke wurden in verschiedensten Magazinen veröffentlicht. 2011 erschien ihr erstes Buch «Teaching My Mother How to Give Birth», eine Sammlung einiger ihrer einfühlsamen Gedichte über Sex, Krieg und Identität.

Sie gewann zahlreiche Preise. Derzeit gibt sie Poesie-Workshops für traumatisierte Menschen und arbeitet als Redakteurin bei «Spook», einem australischen Literaturmagazin.

Das Leben ist ein Yonnihof

Ein Schweizer Pendant lässt sich auf

Facebook finden. Yonni Meier studierte Psychologie und arbeitete in der Forschung. Dann schuf sie ihren Facebook-Blog Pony M. und erntet jetzt mit ihren Kommentaren zu aktuellen Themen regelmässig tausende von Likes. «Das reichte, um einige Medienhäuser auf mich aufmerksam zu machen», sagt Meier. So erhielt sie die Gelegenheit, ihren Blog Yonnihof bei «watson» weiterzuführen und veröffentlicht seit Mai letzten Jahres ihre Texte bei der «Huffington Post» Deutschland.

«Ich lebe seit 2014 ausschliesslich vom Schreiben.» Diesen Sommer begann sie ausserdem, als Stand-Up-Comedian aufzutreten, und gerade erschien ihr zweites Buch «Meh Liebi». «Ich geniesse meine Arbeit sehr. Ich bin wirklich ein Glückspilz.» Überraschenderweise gibt Meier ihre Bücher selber heraus, das sei um ein Vielfaches lukrativer. «Es standen Angebote von Verlagen im Raum, die waren für mich aber allesamt inakzeptabel, weil ich nicht auf Publicity angewiesen bin. Ich erreiche meine Leser über Facebook.» Doch bei allen Vorteilen der Online-Welt findet Yonni Meier immer noch: «Ein Buch ersetzt nichts. »

«Eines Tages, Baby»

In Deutschland liess sich ein anderes Phänomen beobachten. Mit einem YouTube-Video sorgte Julia Engelmann Anfang 2014 für Aufmerksamkeit. Im Video rezitiert die Slam-Poetin den populären «Reckoning Song» von Asaf Avidan und benutzt die auf Deutsch übersetzten Zeilen «Eines Tages, Baby» als Aufhänger. Ihr Text über Wünsche, Träume und versagte Gelegenheiten trifft den Nerv der Zeit. Sie spricht einer Generation aus dem Herzen, die zwar alle Möglichkeiten hätte und weiss, was es heisst, ein vollkommenes, glückliches Leben zu führen, aber aus irgendwelchen Gründen an der Umsetzung scheitert. Ihr zweites Buch «Wir können alles sein, Baby» erschien diesen Oktober.

Bye bye, Buch

All diese Talente haben zwei Dinge gemeinsam: eine riesige Online-Präsenz und mindestens ein veröffentlichtes Werk. Bei den einen kam das Buch vor dem Blog, bei den anderen musste erst der Twitter-Account, die Facebook-Seite oder das YouTube-Video ein Buchprojekt ins Leben rufen. Aber wie wichtig ist es in unserer digitalisierten Welt noch, seinen Namen auf einen Stapel Papier gedruckt zu sehen? Leider hält sich das veraltete Stigma hartnäckig, man habe es erst «geschafft», wenn man einen Verlag im Rücken hat. Vielleicht sind es der nostalgische Wert eines gebundenen Buchs und gleichzeitig das riesige Datenmeer des Internets, die diese Auffassung nähren.

Doch ohne die Leichtigkeit, sich online nach Belieben und ohne Rezension künstlerisch auszudrücken, wäre die Welt um einige einzigartige Werke ärmer. Es ist an der Zeit, einen neuen Respekt für qualitativ hochwertige Online-Werke zu entwickeln. Lassen wir die Vergangenheit hinter uns!