Sekretär Salou Bah (links) bei der Arbeit. Michael Kuratli

Schule für alle

Die Autonome Schule ist ein zweites Zuhause für viele Flüchtlinge. Bald steht sie wieder auf der Strasse.

21. Oktober 2015

In der Mitte der Tafel steht «Identität». Rundherum gesellen sich die Begriff «Familie», «Heimat», «Sprache», «Körper». Jemand ruft «Arbeit». Miri schreibt das Wort auf und fügt wie bei den anderen den richtigen Artikel hinzu. Sie und ihre Kollegin Carole stehen vor einer Klasse von fast 30 Personen, die durchmischter kaum sein könnte. Viele Eritreer, ein Ukrainer, eine Mutter und ihr Kind, die beide still ihr Notizbuch füllen. Ein älterer Herr mit zerfurchtem Gesicht hält sich im Hintergrund, fast wie ein Schulinspektor, während ein jüngerer mit Rastas immer wieder Vorschläge hineinruft, mal englisch, mal deutsch.

Die Klasse spricht über den Philosophen Alain Badiou, der die Schule ein paar Tage später besuchen wird. Identität ist eines seiner Hauptthemen. Er vertritt eine Philosphie, die sich eine Welt ohne Grenzen herbeidenkt, die sich gegen das Schubladendenken der Nationalstaaten wehrt. Politik und soziales Engagement lassen sich in der ASZ nicht trennen. «Wenn man so tut, als wäre alles in Ordnung, ändert sich gar nichts. Wir bieten nicht einfach eine nette Dienstleistung», sagt Sadou Bah, der das Sekretariat der Schule leitet – die einzige entlöhnte Stelle der Schule. «Wir wollen ein Zürich, in dem alle das Recht auf Bildung und ihre eigene Entfaltung haben.»

Diplome werden Altpapier

Viele Menschen, die für ein besseres Leben nach Westeuropa kommen, verlieren einen Teil ihrer Identität auf dem Weg. Das haben alle erlebt, die die ASZ besuchen. In Miris Anfängerklasse haben zwar nur Wenige in ihrem Geburtsland einen Uniabschluss oder eine Lehre gemacht. Und wenn doch: Auf der Flucht in die Schweiz verlieren viele neben ihren materiellen Gütern auch die immateriellen, manchmal sogar den Namen. Auch wohlhabende Flüchtlinge kommen über verworrene Routen zu uns. Vor allem, seit die Schweiz das Botschaftsasyl abgeschafft hat. Gefälschte Ausweise machen aus einem Menschen einen anderen; und aus Diplomen Altpapier. Und selbst wenn eine Ausbildung doch anerkannt wird, kämpft man mit den üblichen Vorurteilen und Gesetzen.

Berhanu ist Deutschlehrer an der ASZ. Dabei ist es noch nicht lange her, dass er selber die Anfängerklasse besucht hat. Berhanu ist seit Beginn dabei; besetzte 2008 die Predigerkirche mit, als Sans-Papiers gegen die verschärften Asylgesetze protestierten. Die «Lex Blocher» war nur die neueste einer Reihe von Daumenschrauben, die Asylsuchende nach und nach vom Arbeitsmarkt und von den sozialen Netzen ausgeschlossen haben. Dagegen wirkt die ASZ mit ihrer Hilfe zur Selbsthilfe.

Dabei hätte Berhanu einen holländischen Masterabschluss im Sack. In Äthiopien hatte er Agronomie studiert, ein Förderprogramm brachte ihn nach Amsterdam. Nach dem Abschluss wollte er in Europa bleiben und stellte in der Schweiz einen Asylantrag – erfolglos. Sein erstes Gesuch an die Härtefallkomission wurde ebenfalls abgelehnt. Eine der Begründungen: Er sei zu wenig integriert, sein Deutsch zu schlecht. Nur ist es eben auch verboten, Asylsuchende auf Staatskosten zu unterrichten. Im Moment ist sein zweites Gesuch in Bearbeitung. Ob seine Deutschkenntnisse nun reichen, wird sich zeigen.

Berhanus Masterabschluss interessiert hier niemanden. Er gilt als Wirtschaftsflüchtling. Während des Asylverfahrens durfte er nicht arbeiten, jetzt als Illegaler ohnehin nicht. «Es ist frustrierend, wenn man sein Wissen nicht anwenden kann. Ich fühlte mich nutzlos», sagt er. So begann er sich im Verein «Bildung für alle» zu engagieren, der die ASZ trägt. «Die ASZ ist mein zweites Zuhause. Hier habe ich eine Aufgabe.» Berhanu ist ein Beispiel dafür, wie die Autonome Schule Identität stiftet und nicht nur davon spricht.

Die Autonomie, die die Schule im Namen trägt, bezahlte sie seit ihrer Gründung 2009 mit einem Zügelmarathon. Vierzehn Mal hat die Schule bisher den Standort gewechselt. Anfangs besetzten die Aktivistinnen und Aktivisten einen alten Schulpavillon der Stadt in Oerlikon und zapften Strom von Strassenlaternen ab. Als Reaktion darauf räumte die Polizei die Schulzimmer. Alles Schulmaterial, Tische und sogar die Fenster des Pavillons wurden abtransportiert, damit nicht wieder besetzt wird. Damals zählte die Schule rund 100 Schülerinnen und Schüler. Inzwischen ist die ASZ grösser, diverser und professioneller geworden. Heute sind es rund 500 Menschen, die hier Kurse besuchen, Unterricht geben oder Veranstaltungen wie jene mit Alain Badiou organisieren. Und man hat ein legales Mietverhältnis als Zwischennutzerin in Altstetten. Doch Ende Oktober steht sie erneut auf der Strasse.

Hoffen auf die Stadt

Mittlerweile hat man sich auch der Stadt angenähert: Seit rund einem Jahr führt man Gespräche über einen dauerhaften Standort. Dass die Stadt zu wenig Hand biete, um passende Räume zu finden, glaubt Michael Rüegg, Sprecher des Sozialdepartements der Stadt, nicht. Die Stadt sei der ASZ gegenüber positiv eingestellt, es gebe regelmäs-sige Treffen zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Stadt und der ASZ: «Wir suchen intensiv nach möglichen Räumen, die den Bedarf der Schule abdecken und gleichzeitig bezahlbar sind.» Angesichts des knappen Raumangebots sei die Suche jedoch schwierig. Rüegg ist aber optimistisch, dass man eine Lösung finden wird.