Die Sorbonne: der Weg hierhin ist steinig. Snjezana Simic

Prekär in Paris

Strikte Arbeitsmoral statt Selbstfindung: Das Studium in Frankreich ist nicht zum Vergnügen da.

21. Oktober 2015

Ich hatte das Gefühl, einen Schulhof zu betreten – dabei war es der Campus der «Université Paris Diderot». Neben rauchenden Jungs in zerrissenen Jeans standen Grüppchen von schwatzenden Frauen. Erasmusstudierende an anderen Pariser Universitäten bestätigten mir den Eindruck, dass die Studierenden unglaublich jung sind.

Was in der Schweiz nur langsam Gestalt annimmt, ist für sie längst Realität: Nach dem «Baccalauréat» – dem französischen Schulabschluss – machen sie ohne Pause weiter, um nach fünf Jahren Regelstudienzeit in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Von Selbstfindung, Service-Jobs und Sprachkursen auf Malta vor dem Studium will keiner der Befragten etwas wissen. Stattdessen absolvieren sie unbezahlte Praktika in den Semesterferien oder machen eine Doppelausbildung, um sich im Arbeitsleben besser behaupten zu können. Schnelligkeit und Zielstrebigkeit scheinen selbstverständlich. Sind die Studierenden der Grande Nation – der Mutter von Denkern wie Descartes, Voltaire und Foucault – so viel besser als wir?

Prof mit 23

Das unangenehme Gefühl, plötzlich selber die alte Dame im Vorlesungssaal zu sein, lässt sich quantitativ belegen. Gemäss der OECD-Studie «Bildung auf einen Blick» sind französische Studierende durchschnittlich drei bis vier Jahre jünger als wir. Im Jahr 2014 lag das Abschlussalter von Studierenden im Schweizer Hochschulbereich zwischen 25 und 27 Jahren, während es in Frankreich zwischen 21 und 24 Jahren lag.

Niemand verkörpert den Geist des französischen Unisystems besser als der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der mit 44 Jahren eine beachtliche Karriere hinter sich hat. Als 16-Jähriger machte Piketty sein «Baccalauréat», um mit 22 an der «École des Hautes Études en Sciences Sociales» (EHESS) sowie der London School of Economics zu promovieren. 23-jährig übernahm er eine Juniorprofessur am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Mit 29 wurde Piketty Direktor der EHESS, einer der renommiertesten Bildungsinstitutionen Frankreichs. Dieser Mann hat in Bezug auf seine Karriere vieles richtig gemacht, das heisst: Nebst der Tatsache, dass er an hervorragenden Bildungseinrichtungen studierte und arbeitete, war er stets verdammt jung.

Bitte keine Leerstellen

Pikettys Curriculum verweist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen dem französischen und dem Schweizer Bildungssystem: Französische Schüler-innen und Schüler werden früher eingeschult und sind bei allen Abschlüssen jünger als wir. Pikettys Karriere ist zweifellos einzigartig und stellt keinesfalls den idealtypischen Bildungsweg dar. Sie zeigt aber, dass im französischen Bildungssystem eine Promotion mit 22 Jahren machbar ist – in der Schweiz ein Ding der

Unmöglichkeit.

Pausen zwischen «Lycée» (Äquivalent zum Gymnasium) und Universität sind nicht vorgesehen. Im Gespräch mit Studierenden wird deutlich, dass dies auf den französischen Arbeitsmarkt zurückzuführen ist: Leerstellen im CV machen sich schlecht und müssen dementsprechend gut begründet werden. Es soll hier nicht über Sinn respektive Unsinn des schnellen Studiums generell diskutiert werden. Vielmehr drängt sich die Frage auf, wie stark dieses enorme Tempo beim Studieren in Frankreich mit der Angst vor Arbeitslosigkeit verbunden ist. Danach befragt, meint der Architekturstudent Adrien: «Oui, j‘ai peur de la précarité et j‘ai peur de l‘avenir.» – «Ja, ich habe Angst vor der Armut und ich habe Angst vor der Zukunft.» Die Motivation für das Tempo scheint also kaum intrinsisch.

Keine Anreize für langes Studium

Auch der Einwand, dass praktische Erfahrungen wertvoll seien im Arbeitsleben, zieht bei französischen Studierenden kaum. Einerseits ist das Unisystem mit Präsenzzeiten und Frontalunterricht zu stark verschult. Andererseits bietet der französische Arbeitsmarkt wenig bezahlte Teilzeitstellen für Studierende. Wie in Deutschland sind Praktika, selbst wenn sie obligatorisch sind, meist unbezahlt. Aus finanzieller Perspektive besteht für französische Studierende wenig bis kein Anreiz, länger als nötig an der Universität zu bleiben.

Mit Blick auf die mangelnden Sprachkompetenzen französischer Studierender bleibt noch ein letztes Argument für ein ausgedehntes Studium vorzubringen: Reisen, Sprachen, interkultureller Austausch! Doch auch dies überzeugt meine Kommilitoninnen und Kommilitonen nicht. Für viele ist es mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, ein Erasmusjahr im Ausland zu verbringen – meine Mitbewohner waren in Indien, Schweden und der Türkei. Im Kontrast zum Prozedere an der Universität Zürich stellt es in Frankreich auch kein Problem dar, Auslandsemester ohne Zeitverlust in das reguläre Curriculum zu integrieren. In der oberen Bildungsklasse – einer Minderheit mit Zugang zu exzellenter Schulbildung – ist ausserdem ein (abgesehen vom Akzent) gutes Englischniveau selbstverständlich.

Frieren in der Bibliothek

Während meines Erasmussemesters in Paris setzte sich ein zweiter Eindruck durch: Die Unis sind unterfinanziert. Unterfinanziert heisst, dass es in den Bibliotheken kalt wird im Winter. Besser finanzierte Institutionen sind für die Studierenden der Bildungselite reserviert. Seit Napoleon existieren in Frankreich zwei Hochschultypen: Neben den normalen Universitäten gibt es die Grandes Écoles, spezialisierte Elitehochschulen wie beispielsweise die EHESS. Die meisten bekannten Intellektuellen Frankreichs haben nicht an einer Universität, sondern an der «École normale supérieure» in Paris studiert. Aufgrund der grossen Zahl an «Lycée»-Absolventen wird hart selektioniert. Um in eine Grande École aufgenommen zu werden, müssen Studierende in der Regel einen enorm aufwändigen zweijährigen Vorbereitungskurs, die «classe préparatoire», besuchen. Nur die Besten und Zielstrebigsten, nur diejenigen also, die perfekt im französischen Bildungssystem funktionieren, werden aufgenommen. Auch von dieser Seite besteht keinerlei Möglichkeit, sein Studium zeitlich flexibel zu gestalten.

Der Elitarismus der französischen Gesellschaft wurzelt in einem historisch und kulturell aufgebauschten Bildungsverständnis, das sich bis heute hält. Eine Konsequenz davon ist eine tiefgreifende soziale Ungleichheit aufgrund des Bildungsniveaus. Den meisten Französinnen und Franzosen bleiben die Türen von Schulen wie der «École normale

supérieure» verschlossen. Auf der anderen Seite stehen all jene, die gute beziehungsweise gut finanzierte Hochschulen besuchen, unter einem enormen Leistungsdruck. Dass viele französische Studierende tatsächlich über eine beeindruckende Arbeitsmoral verfügen, steht aus-ser Zweifel. Dass wir Schweizer dagegen zu viel Zeit für fade Nebenjobs und Partys aufwenden, auch. Gleichzeitig schien es mir, als bliebe jungen Menschen in Frankreich wenig Raum für innovative Ideen und unabhängiges Denken; weder innerhalb noch ausserhalb der Universität. Für Selbstfindung bleibt ihnen in der schwierigen wirtschaftlichen Situation keine Zeit – und angesichts des grossen kulturellen Erbes kein Platz.