Wenn ihm vor die Füsse gespuckt wird, spuckt er zurück. Nina Fritz

«Geschlecht interessiert mich nicht»

Anestis wurde als Mann sozialisiert – seit er nicht mehr in Geschlechterkategorien denkt, ist er glücklich.

18. September 2015

Anestis könnte auch als besonders hipper Hipster durchgehen. Sein Innenarm ist tätowiert, er hat einen Dreitagebart und seine Haare sind millimeterkurz rasiert. Dazu trägt er purpurne Leggins und eine bunt gemusterte Bluse. Aber das wäre viel zu einfach – denn um Ästhetik geht es Anestis nicht. Hinter dem Auftritt verbirgt sich ein jahrelanges Ringen mit Geschlechterrollen.

Als Sohn eines ägyptisch-koptischen Kaufmanns ist Anestis in einem Umfeld aufgewachsen, wo ihm traditionelle Männerrollen vorgelebt wurden. Lange führte er sein Leben, wie es in unserer Gesellschaft von einem jungen Mann erwartet wird. Er trug Männerkleider, war in einer heterosexuellen, monogamen Beziehung, gab sich cool und abgeklärt. «Dabei bin ich ein sehr sensibler Typ», sagt er heute. «Mir wurden diese Stereotypen aufgezwungen.» Über Jahre hinweg war Anestis deprimiert und frustriert. Gleichzeitig kiffte er zehn, fünfzehn Jahre lang durch. Der Bruch kam mit 26, als die Beziehung zu seiner Freundin nach acht Jahren zu Ende ging. «Wer deine Identität wirklich konstituiert, sind jene, die dir am nächsten stehen. Denn sie sagen immer wieder: Du bist doch eigentlich so!» Aber Anestis war nicht «so».

«Transform»

Die Suche nach der eigenen Identität begann mit dem Namenswechsel. Anestis, wie er sich von da an nannte, las Foucault, Haraway und Butler, was ihn dazu inspirierte, in seinem Alltag mit den Geschlechterrollen zu spielen. «So konnte ich für mich Dinge lösen, die vorher nicht in Ordnung waren», sagt er. «Ich glaube auch nicht, dass das bei allen funktioniert hätte.» Anestis würde sich heute weder als Mann noch als Frau bezeichnen. «Transform» treffe es am ehesten. Denn ihm gefällt der Aspekt der Bewegung, dieses Hin und Her. Je nach Situation fühlt er sich in einem stereotypen GeschlechterKonstrukt wohler, aber identifizieren kann er sich mit keinem. «Ich glaube nicht mehr an diese Trennung in Geschlechter.» Für ihn ist dieses Thema ausgereizt. Mit dem Tragen von Frauenkleidern hat er einen Weg gefunden, seiner Identität Ausdruck zu verleihen.

Keine Conchita Wurst

Entgegen seinen anfänglichen Befürchtungen bekommt er viele Komplimente – viel mehr als früher. Natürlich gibt es auch schwierige Situationen, zumal ihm an der männerdominierten ETH, wo er Geschichte und Philosophie des Wissens studiert, die scheelen Blicke einiger Kommilitonen gewiss sind. Oder neulich, als ihm in der Langstrasse zwei junge Männer demonstrativ vor die Füsse gespuckt hatten – da ist er stehen geblieben und hat ihnen auch vor die Füsse gespuckt. Aber es gibt eben auch andere Begegnungen. «Als mich in einem Nachtclub ein Besucher mit ‹Weisst du, ich bin Moslem› ansprach, erwartete ich eine Hasstirade. Aber der Fremde gratulierte mir zu meinem Mut.» Solche Komplimente bedeuten Anestis am meisten; mehr als jene der sogenannten Bildungselite, die sich Toleranz und Offenheit schon a priori auf die Fahne schreibt.

Anestis ist keine Conchita Wurst, keine Kunstfigur. Es geht ihm nicht darum, zu provozieren oder «Zeichen zu setzen» oder «die Kategorien Mann und Frau zu verhandeln» – sondern darum, einen Weg gefunden zu haben, den «suure Stei», den er früher im Gesicht trug, loszuwerden und glücklicher zu leben. Was er zwischen den Beinen trägt, ist ihm dabei herzlich egal.