Psychiater David Garcia schrieb früher für die ZS. zvg

Ist es ein Junge oder ein Mädchen?

Herr Garcia, was ist Geschlecht?

14. September 2015

Genderexperte David Garcia plädiert für

mehr Akzeptanz von Transmenschen.

Geschlecht hat eine grosse Macht, wird aber im Alltag überhaupt nicht reflektiert. Als Mediziner würde ich sagen, dass Geschlecht der körperliche und psychische Ausdruck einer breit gefassten Sexualität ist. Aber bei uns Menschen drückt sich das Geschlecht auch sozial aus, das heisst im Bereich der Identität und der Beziehungen mit anderen. Das Geschlecht ist also ein Konglomerat: Es ist Ausdruck vom

Miteinander-Sein, vom Sich-selbst-Sein, aber, wenn wir an die sexuelle Reproduktion denken, auch davon, sich auf die Zukunft projizieren zu wollen.

In der Gesellschaft sind ja die klassischen Vorstellungen von Mann und Frau noch sehr stark verankert. Sehen Sie darin ein Problem?

Die Bipolarität Mann/Frau ist ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das sich in praktisch allen Gesellschaften finden lässt. Es erschafft auf der Basis von einem sogenannt «natürlichen» Phänomen zwei Kategorien. Dabei gibt es keine biologischen Funktionen, die in Kategorien funktionieren. Krankheiten werden zwar in Kategorien eingeteilt, aber diese unterstehen immer einer wissenschaftlichen Diskussion und werden so immer wieder verändert. Das Geschlecht ist in der Medizin die einzige binäre Kategorie, die niemand aufzuheben bereit ist. Das hat mich immer sehr gestört.

Ist die konservative Haltung der Medizin daran schuld?

Die Medizin trägt dazu bei, dass die bipolare Geschlechterordnung weiterhin so unhinterfragt bleibt. Dabei wissen wir heute aus der biologischen Forschung, dass alles viel komplexer ist. «Mann gleich XY» und «Frau gleich XX», das ist eine Vorstellung aus den 1950er Jahren. Ich glaube, wir sind extrem gut darin, in Gegensätzen zu denken. Aber das heisst nicht, dass man das nicht überwinden könnte. Die ganze kulturelle Entwicklung ist ja eine Überwindung von unseren Instinkten, ein Hinterfragen von dem, was wir machen und wohin wir wollen. Seit etwa 250 Jahren ist das Geschlecht jedoch sehr stark präsent. Wenn heute ein Kind auf die Welt kommt, ist die erste Frage, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Früher hat man als Erstes gefragt: Ist das Kind gesund?

Sie haben lange die Sprechstunde für Gender-Dysphorie geleitet. Gender-Dysphorie, was ist das?

Gendervarianz plus psychisches Leiden gleich Gender-Dysphorie. Aber das psychische Leiden entsteht nicht, weil die Person krank ist. Es ist ein sekundäres, reaktives Leiden. Eine Reaktion auf den Druck, den die Person aushalten muss, weil wir in einer ausserordentlich stark geschlechtlich bipolaren Gesellschaft leben. Man könnte ja auch davon ausgehen, dass es so viele Geschlechter gibt, wie es Menschen gibt. Man spricht von «Gendervarianz», wenn eine Person merkt, dass bestimmte nach aussen wahrnehmbare Merkmale ihres gegenderten Körpers – zum Beispiel wird ein Mensch mit einem Penis als Mann wahrgenommen – während einer längeren Zeitperiode nicht dem eigenen Erleben entsprechen.

Menschen mit einer Gender-Dysphorie sind sich ihrer Gendervarianz bewusst und wollen aus einem Leidensdruck heraus geschlechtsangleichende Schritte unternehmen.

Sie sagen, dass Transpersonen nicht krank sind. Sie werden aber doch de facto pathologisiert?

Die Menschen mit einer Gender-Dysphorie, die zu mir kommen, haben einen Gesundheitszustand, der aussergewöhnlich ist. Soweit wir wissen, ist Trans* eine statistische Minderheit. Aber Schwangere sind das auch, und doch pathologisieren wir sie nicht. Ich befreie mich davon, Geschlechtervarianz und Gender-Dysphorie pathologisieren zu müssen, indem ich sage: Transmenschen haben einen ähnlichen Status wie Schwangere. In diese Richtung bewegt sich auch die Medizin: In der neuesten Version der internationalen Klassifikation für Erkrankungen ICD-11 wird Trans* nicht mehr im Psychiatriekapitel zu finden sein sondern in einem eigenem Kapitel zusammen mit anderen Zustandsbildern, die mit Sexualität und Identität zu tun haben.

Ist das eine Entwicklung, die Sie befürworten?

Grundsätzlich ja. Aber wenn sich Trans* von der Psychiatrie löst, welches Fach soll sich dann um diese Menschen kümmern? Es ist durchaus möglich, dass die Psychiatrie findet: Okay, wenn ihr mit uns nichts zu tun haben wollt, dann müssen wir auch keine Oberarztstelle zur Verfügung stellen. Das war’s mit uns. Und da stellt sich die Frage, wohin dann die Transpersonen gehen sollen. Und ich kann Ihnen sagen: Hausärzte und Endokrinologinnen sind einfach absolut nicht dazu befähigt oder darauf vorbereitet, Transmenschen zu begleiten.

Von wie vielen betroffenen Menschen sprechen wir eigentlich?

In den 1990er Jahren sprach man von einem Verhältnis von etwa 1:400’000 bei den Männern und 1:150’000 bei den Frauen. Diese Zahlen beziehen sich aber auf Menschen, die den Wunsch haben, ihr Geschlecht komplett anzugleichen. Leute, die sagen: wenn schon, denn schon. Mittlerweile haben sich die gesellschaftlichen Konzepte dynamisiert. Es gibt neuere Untersuchungen, die davon ausgehen, dass eine von 500 Personen Probleme mit ihrem Geschlecht oder mit ihrer Geschlechtsidentität hat. Das wären zwei Promille der Bevölkerung. Was nicht wenig ist. Es kommen auch immer mehr Leute mit Fragen zu ihrer Geschlechtsidentität in die Beratung. Innerhalb von wenigen Jahren hat sich die Zahl der Patientinnen und Patienten, die pro Jahr in der Sprechstunde am Unispital Zürich kommen, von 40 auf 120 erhöht. Das ist ein massiver Anstieg.

Wenn die Zahl der Ratsuchenden so stark wächst, kann man vielleicht auch von einem Hype sprechen?

Von einem Hype zu sprechen, ist gefährlich. Das ist ja keine Modeerscheinung. Ich kenne niemanden, der sagt: Also, ich hätte jetzt ein bisschen Lust, männlicher oder weiblicher auszusehen, verschreiben Sie mir Hormone, das wäre lässig. Zum Teil tragen die Menschen lebenslange Kämpfe aus. In dem Moment, in dem der gesellschaftliche Druck abnimmt, sich genderkonform zu verhalten, werden auch Leute von der Kategorie «Trans*» erfasst, die vielleicht vorher das Label «depressiv» oder «Borderline» hatten. Das heisst nicht, dass wir neue Transmenschen «produzieren», sondern dass Leute vielleicht eher zum Kern ihrer Probleme stossen können, weil die Gesellschaft ihnen das erlaubt.

Wenn es in Zukunft gesellschaftlich akzeptierter wird, dass man aus dieser Dichotomie Mann/Frau ausbricht, kann man dann noch mit gutem Gewissen jemanden dabei begleiten, sich vom einen in das andere Geschlecht umzuoperieren?

Das ist eine gute Frage. Da sind wir beim Thema der ästhetischen Chirurgie. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Mensch kommt zum Chirurgen und sagt: Ich fühle mich zu wenig weiblich und deshalb möchte ich einen grösseren Busen. Wenn diese Person sozial als Frau gilt, dann sagen wir, das sei Ästhetik, über Geschmack lasse sich nicht streiten. Es wird als Privatsache angesehen. Aber wenn die Person sozial als Mann klassifiziert worden ist, dann sagen wir: Ui, das ist Identität, das ist sehr tiefgründig, das ist Sache der Psychiater, das ist Trans*. Das müssen wir uns ganz genau anschauen. Für den Chirurgen ist es aber zweimal genau der gleiche Eingriff. Es könnte durchaus sein, dass Transmenschen in Zukunft keiner Begleitung mehr bedürfen und dass dafür aber der so markwirtschaftliche Wunsch nach einer möglichst billigen grösseren Brust mehr psychologisiert wird. Und dass wir versuchen, besser zu verstehen, weshalb sich Geschlecht eigentlich so stark über den Körper ausdrückt. Wieso kommt zum Beispiel niemand zu einem Chirurgen und sagt: Ich möchte intelligenter aussehen und deshalb möchte ich grössere Ohren?

Es gibt ja auch Leute, die eine geschlechtsangleichende OP bereuen. Haben Sie so etwas schon erlebt?

Ich stamme ursprünglich aus Spanien und bin sehr katholisch erzogen worden. Bei Reue kommt mir deshalb immer die katholische Kirche in den Sinn, wo man beichten muss und dann befreit wird von der Schuld, damit man wieder bei Null anfangen kann. Wenn ein Transmensch sein Geschlecht amtlich ändern will, dann verlangt der Staat de facto eine Zwangssterilisation dieser Person. Der Staat sagt: Wenn du möchtest, dass das Kreuzchen von männlich zu weiblich oder umgekehrt geändert wird, dann brauche ich dafür deine Gonaden. Und das im 21. Jahrhundert und nach allem, was im 20. Jahrhundert mit Zwangssterilisationen passiert ist! Man muss sich vor dem hohen Altar der Psychiatrie entkleiden und seine «wahre» Identität zeigen. Die Vorstellung, dass man nun endlich sich selber ist und vorher falsch war, hinterfrage ich immer. Identitäten funktionieren einfach nicht so.

Was hat das jetzt mit den Bereuerinnen und Bereuern zu tun?

Ich sage meinen Klientinnen und Klienten, dass ich sie zu dem Geschlecht begleite, in dem sie sich wohlfühlen. Dieses Geschlecht ist in dieser Situation das richtige. Aber diese Situation kann sich natürlich in 20 Jahren ändern. Es gibt ausserordentlich wenige sogenannte «Regretter». Die Zahl uns bekannter Fälle liegt unter vier Prozent. Wenn Sie das zum Beispiel mit dem Misslingen von Herzoperationen vergleichen, sind geschlechtsangleichende Operationen wahnsinnig erfolgreich. Aber hier zeigt sich wieder die Stigmatisierung: Praktisch kein Journalist fragt eine Herzchirurgin, wie viele Herztransplantationen scheitern. Obwohl das auch passiert. Und zwar tagtäglich irgendwo auf der Welt. Ich spüre diesen Druck stark: Wenn du so eine Person begleitest, dann musst du dir auch hundertprozentig sicher sein. Und wehe, du machst einen Fehler! Leider ist es tatsächlich so, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Transmenschen sich – auch postoperativ – suizidieren oder umgebracht werden, massiv erhöht ist im Vergleich zu den Nicht-Transmenschen. Ich vermute, dass das teilweise damit zusammenhängt, dass die Operationstechniken nicht so gut sind, wie man sie manchmal darstellt. Dann sind die Leute mit dem Resultat unzufrieden. Und: Wir fokussieren alle sehr stark auf die Transition selbst, aber sobald die Leute operiert worden sind, kümmert sich kein Mensch mehr um sie.

Wie ist das denn in Ihrer Sprechstunde?

Ich bin die einzige Person am Unispital Basel, die diese Sprechstunde macht, mit einem Pensum von 70 Prozent. Wenn Sie jetzt im September zu mir kommen wollen, dann muss ich Ihnen sagen: Es wird Ende Januar. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Krebs, und der einzige Arzt, den es in der Schweiz gibt, sagt Ihnen: Ja, gern, aber erst in 5 Monaten.

Jetzt könnte man natürlich sagen, das ist nicht so akut.

Wer mitten in einer Transition steckt und darunter leidet, nicht im für ihn oder für sie passenden Geschlecht wahrgenommen zu werden, für den oder die ist das überlebensnotwendig. Ich habe zum Glück bis jetzt noch nie die Situation gehabt, dass sich jemand in der Wartezeit suizidiert hätte, aber ich rechne damit, dass das irgendwann passiert. Das ist ein Zustand, der nicht zum Aushalten ist. In der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie gibt es nur zwei Gruppen von Patientinnen und Patienten, die so lange warten müssen: Migrantinnen und Migranten und Transmenschen. Es soll mir niemand kommen und sagen, dass das Zufall ist.

Ist das auch ein Grund, weshalb Sie sich ausserhalb der Akademie noch für Transpersonen ein-

setzen?

Ja. Ich finde, Sexualwissenschaft und Politik sind schwer voneinander zu trennen. Das heisst nicht, dass man die Wissenschaft verpolitisieren oder seine Klientinnen und Klienten für seine politischen Zwecke nutzen darf. Aber man muss die Leute auf die Missstände und auf die verborgenen Probleme aufmerksam machen. Woher soll das ein Politiker sonst erfahren? Man verlangt ja auch nicht, dass krebskranke Kinder selber für ihre Interessen kämpfen. Hier kommt wieder die Stigmatisierung ins Spiel: Wenn ich mal einen systemkritischen Text schreibe, dann werde ich a) komisch angeschaut und b) innerhalb der Akademie oder im Spital als schräger Vogel dargestellt. Nur, damit Sie sich eine Vorstellung davon machen können: Ich habe es während meiner mehrjährigen Tätigkeit in Zürich nicht geschafft, dass das Universitätsspital in seinen Anmeldeformularen ein drittes Kreuzchen beim Geschlecht einführt.

Nicht nur am Unispital, auch an der Universität haben Sie sich ja für Transpersonen eingesetzt. Womit sehen sich denn Trans*-Studierende im akademischen Umfeld konfrontiert?

Ich habe mich dafür eingesetzt, aber die Lorbeeren gelten den Trans*-Expertinnen und -Experten, die tatsächlich dann mit den Stellen an der Uni gekämpft und sich durchgesetzt haben. Ich hatte einen jungen Transmann als Klienten, der an der Uni extreme Diskriminierung erlebt hat. Besonders schlimm waren für diese Transperson Prüfungen mit öffentlichen Anwesenheitskontrollen, also mit Namensaufrufen. Als er dort mit seinem weiblichen Vornamen aufgerufen wurde, hat er den Raum verlassen, weil er sich mit diesem Namen nicht identifizieren wollte und vor allem, weil er nicht öffentlich vor den Kolleginnen und Kollegen, mit denen er im Streit war, so angesprochen werden wollte. Die Person erlebte das als öffentliche Demütigung. Das ereignete sich in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Und die Juristinnen und Juristen haben sich auf den legalistischen Standpunkt gestellt: «Solange dein Name und dein Personenstand nicht geändert sind, wird nichts gemacht.» Ich fragte mich dann: Wenn es geheissen hätte, er möchte Barbie anstatt Barbara genannt werden, hätten sie sich flexibler gezeigt?

Gibt es eine offizielle Policy an der Uni?

Ja. Es gibt nun ein Dokument, das den Umgang mit Namensänderungen von Transpersonen regelt. Aber dem Unispital fehlt es noch immer an einer offiziellen Policy. Auch in der Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte muss Trans* stärker thematisiert werden. Als Medizinstudent habe ich das Thema Trans* eine Stunde behandelt, das Thema Sexualität im Allgemeinen eine Doppelstunde. In sechs Jahren. Meine Kollegen, die in der Somatik sind und tagtäglich mit Körperlichkeit, mit Sexualität und mit Geschlecht zu tun haben, sind einfach auf sich alleine gestellt. Der Staat geht davon aus, dass die das dann schon wissen werden, irgendwie. Und da sind wir wieder beim Kernproblem. Mit dem Geschlecht ist es ein bisschen wie mit dem Geld. Darüber redet man nicht, das hat man einfach.

Das Gespräch wurde von Michael Kuratli mit Laura Cassani geführt.

Zur Person

David Garcia ist Psychiater und Sexualtherapeut. Er war bis im März 2015 Oberarzt am Universitätsspital Zürich, wo er das Gender-Dysphorie-Team leitete. Nun baut er eine ähnliche Stelle in Basel auf. Garcia hat Medizin studiert, war als Student unipolitisch aktiv und hat auch für die ZS geschrieben. Bei den kommenden Nationalratswahlen kandidiert er für die Alternative Liste.