Wir waren dabei! Das Handy liefert den Beweis. Paléo 2015 Abschlussfeuerwerk. Michael Kuratli

Wir sehen uns 1975

Früher waren Festivals schamlose Schlammschlachten, heute gleichen sie eher einem Besuch im Edelclub. Was ist passiert? Ein erläuternder Kommentar.

5. August 2015

Den Satz «Früher war alles besser» halte ich für Unsinn. Aber wenn es um Openairs – oder Festivals, wie sie heute genannt werden – geht, da werde ich nostalgisch. Ich erinnere mich: Ich war 14 Jahre alt, im Sitterentobel am «Openair St.Gallen», ich war Fan von den «Kooks» oder sonst gerade in den Sänger einer «Indie-Band» verliebt, betrunken nach 2 Bier im Plastikbecher (von dem ich eines heimlich weggeschüttet hatte) und voller Schlamm im «Bacardi»-Dom am tanzen. Meine Würde hatte ich zuhause gelassen, meinen Spiegel auch, aber es war egal, denn wir sahen alle gleich beschissen aus.

Heute hat jede und jeder einen Spiegel dabei, wenn auch nur in der Form seiner Kamera. Am Hip-Hop Festival «Openair Frauenfeld» gibt es seit einigen Jahren auf dem Camping sogar ein Zelt zum «Aufstylen» für die «Ladies», inklusive Haarstreckeisen und Schaumfestiger. Diese Absurdität hatte sich jedoch angebahnt und war absehbar: Seit einigen Jahren ist «Festival-Fashion» denn auch das Schwerpunktthema sämtlicher Frauenmagazine ab April. Wir sehen, wie Alessandra Ambrosio in «Denim Hotpants» am Coachella-Festival in den USA ihre dürren Beinchen defiliert und wir sehen, wie in England, am Glastonbury-Festival Kate Moss und Konsortinnen ihren «Boho-Chic» präsentiert. Es geht immer darum, maximal gut auszusehen auf eine Weise, dass es nach minimal wenig Aufwand aussieht. Hübsch ist es, aber Spass macht es nicht, wie auch am diesjährigen Paléo-Festival in Nyon zu beobachten war.

«Gettin’ drrty to Sting»

Das Paléo-Festival, so dachte ich, sei die letzte Bastion im Schweizer Festival-Sommer: ohne Ego, ohne Haarstreckeisen, ohne Outfits. Doch nein: Am Sting-Konzert am Mittwochabend regnet es in Strömen und zwei Mädchen mit Blumen in der Frisur vor uns diskutieren ihre Situation: Sollen sie zurück auf den Camping, weil es «tröpfelt» und ihre Haare sonst zerzausen könnten? Sie bleiben. Und schiessen trotz unbefriedigendem Aussehen ein Selfie als Sting die Bühne betritt. In einer Status-Nachricht teilen sie den Schnappschuss, fügen noch ein Bild von ihren dreckigen Gummistiefeln hinzu und kommentieren: «Gettin’ drrrty to Sting». Wenn die insgesamt 230'000 Besucherinnen und Besucher nach einer Woche Festival nach Hause kommen, wissen schon alle, wie es war: Es hatte geregnet, die künstlerischen Darbietungen waren wie gewohnt genial, das Essen aus aller Welt war köstlich, die Stimmung wie immer friedlich. Das Paléo bleibt trotz allem das beste Open-air der Schweiz, aber auch hier hat das schön ausgelichtete, cool inszenierte Foto die Anekdote ersetzt. Auch hier schauen die Menschen eher auf ihr Wetter-App als in die Wolken, um herauszufinden, ob es regnet.

Mein Ego war dabei

Das Telefon bleibt nie mehr in der Tasche; es ist das Feuerzeug während Stings «Every Breath You Take», es ist das Festivalprogramm (mit dem Paléo-App), es ist der Spiegel und es ist das Gerät, das den nicht zu bändigenden Inszenierungsdrang der nicht-berühmten Menschen neben den Bühnen zu befriedigen weiss. Ein Applaus kann noch so tobend sein, die Hände zehntausender Menschen bewegen sich zum selben Zeitpunkt enthusiastischer über ihre Touchscreens um der «Kollegin in Züri» zu schreiben, «wie geil es war». Oder um den Künstler zu googeln. Eine junge Frau in der dritten Reihe starrt bei der Sting-Zugabe auf die Wikipedia-Seite in ihrem Telefon, stupft ihre Freundin an und staunt: «Der ist so alt wie mein Vater und total heiss! - «Voll crazy!», bestätigt ihre Kollegin, doch ganz aufmerksam hat sie ihr nicht zugehört, denn sie ist gerade damit beschäftigt, ihr Telefon auf einem Selfie-Stick auszuspiessen und ihren Arm fürs Foto zu verrenken. «Cheese!», befiehlt sie. Die Musik ist sekundär, Hauptsache der Schnappschuss stimmt.

Der Akku darf niemals leer sein

Nicht nur an den Konzerten selbst, wo man meint, dass das Erlebnis und nicht die Aufnahme davon zählen sollte, regieren die Smartphones das Festival. Bevor einige am Morgen ihren Hunger stillen, müssen sie ihre Akkus laden. Auf dem Camping am Paléo können die Besucherinnen und Besucher nur auf den Toiletten-Wagons Strom beziehen. Darum sind die stinkigen Wagen mittlerweile die beliebtesten Orte zum Abhängen. Das sieht so aus: Gruppen von Jugendlichen tragen ihre Plastiksessel und Musikanlagen zu den WCs, stecken ihre Telefone ein und lassen sich gemütlich – sehr zur Verwunderung der älteren Festivalbesucherinnen- und besucher – an dem Ort nieder, der jedermann und –frau sonst gerne so schnell wie möglich wieder verlässt. Der Strom darf nie ausgehen, denn dann wäre man nicht mehr mittendrin. Wer heute auf einem Feld in Nyon steht, teilt das. Wer heute an Konzerte geht, hört nicht nur zu, sondern hält alles auf Kamera fest. Die Stimmung an Festivals ist mieser denn je, aber auf den Bildern sieht es besser aus als in all den Jahren vorher. Das Paléo-Festival hat dieses Jahr sein 40- Jubiläum gefeiert. 1975 war bestimmt nicht alles besser: Aber ein Openair ohne Selfies und Musik, die mit den Ohren, nicht durch den Telefonlautsprecher gehört wird, wäre ein guter Anfang. Darum, hier ein Versprechen: Nächstes Jahr lass ich das Telefon zuhause. Und den Spiegel auch.