Für einmal mehrheitlich sonnig: Das St. Galler Openair 2015. Michael Dornbierer flickr CC

Von Strohfeuern und Gartenlauben

Ein flacher Zeltplatz am Openair St. Gallen will wohlverdient sein. Fürs stundenlange Anstehen entschädigen die aufstrebenden Bands, Gartenlauben-Watching und – kaum zu glauben – Traumwetter.

29. Juni 2015

Auf der Hinfahrt überwiegt die Vorfreude. Ich schwelge in Erinnerungen vom letzten Jahr. Sehe die Sitterbühne vor mir, in orangerotes Licht getaucht, darüber den wolkenlosen Himmel, auf der Bühne ein Highlight nach dem anderen. Die verklärte Vorstellung muss bald der Realität Platz machen. Beim Parkieren auf dem Parkplatz Breitfeld kommt der erste Dämpfer: 60 Franken Parkplatzgebühr. Der Bauer, der hier seine Felder als Openairparkplatz verpachtet, verbringt wohl die restlichen 361 Tage des Jahres in seiner Villa auf den Malediven und lacht sich schlapp über die Idioten, die noch immer nicht begriffen haben, dass der ÖV die bessere Lösung ist, Gepäck schleppen hin oder her. Was als nächstes kommt, ist auch keine Überraschung. Aufs Warten ist man als Openair St. Gallen-Fan bereits gefasst, da machen einen die Drängler kaum mehr wütend, und auch gefühlte 30 Grad im Schatten (der leider unerreichbar auf der anderen Seite der Wiese liegt, hinter dem Absperrgitter des Wartebereichs) lassen einen nur mit den Schultern zucken. Aber für einen einigermassen Flachen Zeltplatz nehme ich die 6 Stunden Zentimeterheischen vor dem Eingang Abtwil am Donnerstagnachmittag bereitwillig in Kauf.

Gefährte für Fahrausweis BE

Um mir die Wartezeit zu verkürzen, schaue ich mir die Mit-Openairbesucher genauer an und werweisse, wer schon am Freitagmorgen im Elend vor dem Zelt liegen wird, und wer bis am Sonntagabend den Pegel konstant halten kann, um dann am Montagmorgen mit einem kumulierten Viertages-Mordskater im Büro zu sitzen. Immer wieder spannend sind auch die Gefährte, mit denen das Material für vier Tage Festival transportiert wird. Während Mülltonnen bereits als Klassiker durchgehen, bräuchte die fünfköpfige Gruppe vor mir für ihren Anhänger auf der Strasse mindestens einen Fahrausweis Kategorie BE. Jetzt werden sie noch belächelt, wie sie mit ihren Holzbalken den Berg hoch ächzten. In ein paar Stunden werden alle beim Anblick ihrer garantiert wasserfesten Festung mit Automotor-betriebener Soundanlage und Sicht bis zur Sitterbühne vor Neid erblassen.

Im Sittertobel wird schneller gebaut als in Dubai

Nach sechs Stunden Warten kommt endlich Bewegung in die Schlange. Die Gitter werden geöffnet. Doch selbst wer Stunden gewartet hat, sich durch die Büsche schlägt, sumpfige Hänge durchwatet und einen Sprint durchs Tobel hinlegt, kommt scheinbar als Hinterletzer auf dem flachen Zeltbereich an. Der Grund: die eingefleischten Openair-Fans sind schon am Mittwoch angereist, um im abgesteckten Wartebereich auszuharren, und sich dann als erste die besten Plätze zu sichern. Ich fluche bereits wie ein Berserker beim Gedanke ans Schlafen in der vertikalen, und träume mir die Weitläufigkeit des Gampelzeltplatzes herbei, wo sich noch am Samstagnachmittag ein Luxusplätzchen finden lässt.

Schliesslich haben wir Glück. Neben einer Gruppe, deren Pavillon-Kleinstadt bereits vollständig aufgebaut ist − im Sittertobel schiessen die Bauten schneller aus dem Boden als in Dubai − finden wir ein Plätzchen für unser bescheidenes Zelt. Dieses Jahr sogar weit weg von allen unbewohnten Hängen, die sich in 1A Rutschen verwandeln, sobald Schlammgallen seinem Namen gerecht wird.

Die traditionelle Bratwurst mit Senf

Völlig erschöpft gibt es erstmal ein kühles Bier − Schützenpfütze in der Pettflasche Ahoi − bevor die ersten Acts loslegen. Dieses Jahr erhalten Newcomer eine grössere Plattform. Sie spielen nicht nur auf der überdachten Chesterfield-Bühne, sondern am Donnerstag auch auf einer eigens für sie errichteten Newcomer-Stage neben der ehrwürdigen Sitterbühne. Schnell wird klar: St. Galler Jungbands haben hier den Vortritt. Bei ihren Ansagen dreht sich mir als stolze Zürcherin vor lauter St. Gallerdeutsch schon fast wieder der Magen um. Aber wenn es einen Ort gibt, an dem Dialektwitze über St. Galler nicht angebracht sind, ist es das Sittertobel. Also reisse ich mich zusammen. Was ich mir nicht verkneifen kann, ist, die Bratwurst im breitesten Züridütsch mit Senf zu bestellen. Den verächtlichen Blick des Wurstverkäufers ignoriere ich getrost. Die Newcomer sind dann auch nicht übel, die grosse Entdeckung scheint aber noch nicht dabei zu sein. So geht der Donnerstagabend ohne musikalische Überraschung über die Bühne, denn dass Frank Turner mit den «Sleeping Souls» auf der Sternenbühne eine solide Leistung zeigt, war zu erwarten.

Beatrice Egli zum Aufstehen

Nach einer kurzen Nacht im Zelt bei 5 Grad weckt mich morgens um 6 Uhr eine trällernde Beatrice Egli aus dem Barzelt nebenan. Tapsend mache ich mich auf den Weg zum Kaffeemobil, unterwegs ist Alkleichen-Spotting angesagt. Mein erstes musikalisches Highlight lässt noch auf sich warten. Erst als die australische Band «Money For Rope» am späten Freitagnachmittag bei prallem Sonnenschein die Sitterbühne rockt, schlägt mein Festivalherz höher. Auch wenn beide (!) Schlagzeuger mit ihren Sticks regelmässig Mikrofone statt Drums treffen, was für ungewollte Töne sorgt. Als Hauptact ist einer der Oasis-Brüder, Noel Gallagher, mit seiner Band «High Flying Birds» am Start. Youtube verrät, dass dieser an Konzerten gerne einige Oasis-Hits zum Besten gibt, und so ist die Vorfreude bei denen, die auf Oldschool Rock stehen, gross. Sie verlangen während des ganzen Konzertes lautstark nach Wonderwall- doch ihr Wunsch wird nicht erhört. «Don't look back in Anger» klingt dafür fast so wie zu Oasis-Zeiten (dieses Urteil nehme ich mir heraus, ohne die Band je live gesehen zu haben).

Schlammgallen Ahoi

Am dritten Tag sind die Haare fettiger, die Kater grösser, aber die Feierlaune ungetrübt und der Himmel nur leicht bewölkt. Zwei Tage ohne Regen, da werden die Verfasser der Openair-Zeitung glatt übermütig und schreiben: "Mit ein bisschen Glück wird das Openair St. Gallen dieses Jahr seinen Ruf als Schlammgallen los".

Aber natürlich kommt es anders. Bei den ersten Tönen von «Lo und Leduc», die dieses Jahr Festivalhopping durch die ganze Schweiz betreiben, öffnen sich sämtliche Schleusen und es giesst wie aus Kübeln. Nach einer Viertelstunde ist das Gröbste überstanden. Trotzdem heisst es Gummistiefel montieren, denn Teile des Platzes vor der Hauptbühne haben sich bereits wieder in ein Moor verwandelt.

Doch das bringt die Campingfans nicht aus der Ruhe, mit ihren gedeckten und eingehagten Vorgärten sind sie für schlimmeres (Un-)Wetter gerüstet. In grossen Gruppen sitzen sie unter ihrer Gartenlauben um die mitgebrachte Feuerschale, zapfen Bier vom eigenen Fass und hören wahlweise AC/DC oder Cro. Geschützt vor neugierigen Blicken sind sie durch Tücher oder selbstgebaute Gartenzäune aus

Ästen und Eisenstangen. Schliesslich will man sich nicht mit dem Pöbel abgeben, der ohne Pavillon angereist ist. Die Musik ist für die Gartenläubler zweitrangig, ans Openair fahren sie, um die Stimmung zu geniessen und endlich mal wieder ungeniert Bier zu trinken bis zum Umfallen. Trotz Sichtschutz bieten sie für alle, die nicht der ehrwürdigen Gartenläubler-Garde angehören, beste Unterhaltung in Konzertpausen. Man braucht nur übers Gelände zu schlendern, und sieht eiserne Cheminées, Holzplattformen und Lauben, die aussehen, als trotzten sie hier das ganze Jahr über Wind und Wetter.

«Mighty Oaks» lassen diejenigen, die sich doch mehr für die Musik interessieren, als für den perfekten Röstgrad der Olmabratwurst, für gemütlich in den Vorabend wippen. Ihren Sound könnte man für Brit-Pop-Rock halten, doch die Band stammt laut Programm aus Deutschland. Die Erklärung liefert der Frontsänger bei seiner ersten Ansage gleich selbst: Die Bandmitglieder kommen aus der ganzen Welt und haben sich in Berlin gefunden − ein Brite ist auch mit von der Partie.

Als Headliner des Festivals sind «Placebo» eingeladen, deren Bühnenbild und Lichttechnik sich klar von allen anderen Acts abheben. Und doch ist es «Stress», der bereits vor Placebo das Publikum mit der Hilfe von «Karolyne» am meisten zum Kochen bringt. Überhaupt scheint es, als hätten sich viele im Festival geirrt, und wollten eigentlich ans Frauenfeld− die Rap- und Hip Hop-Acts bekommen fast mehr Zuspruch, als grosse Rockbands wie «Rise Against». Verwandelt sich das früher als überwiegendes Rock-Festival bekannte Openair St. Gallen in ein Mekka für Rap-Begeisterte?

Ein Strohfeuer am Openair

Am Sonntagmorgen erwache ich wegen eines Strohfeuers. Und das ist wortwörtlich zu verstehen. Der Wagen und das dazugehörige Zelt des Stohverkaufs sind in Brand geraten und das Feuer greift auf einige Zelte über. Verletzt wird glücklicherweise niemand, aber der Brandgeruch ist beissend, und die Bewohnerinnen und Bewohner der umliegenden Zelte müssen flüchten.

Das Line-Up am Sonntag ist wieder mehr auf Soft-Rock und Pop. Am rockigsten geht es bei der österreichischen Band «Wanda» zu und her, die nach «Wiens einzigem weiblichen Zuhälter» benannt ist, bringt selbst die verkatertsten Besucher zum Tanzen. Noch immer hängt der Gestank von verbranntem Plastik in der Luft, darunter mischt sich Schweissgeruch − nach vier Tagen Festival riecht kaum mehr einer nach Lavendel. Als die irischen Soft-Rocker «Kodaline» loslegen, haben sich dann auch die Letzten aus dem Schlafsack geschält, und das Sittertobel schwingt Hüften und Arme, dazu fliegen die Federn − jemand schüttelt den Inhalt seines Kissens über den Tanzenden aus.

Mitten im Grössten Hit der Band, «High Hopes» bricht der Ton jäh ab. Die Band macht wegen der In-Ears weiter, als sei nichts passiert. Erst als sie das Publikum johlen hören, unterbrechen sie das lautlose Spiel. Endlich die Ansage: Es gibt Probleme mit dem Mikrofonsystem, die Band geht von der Bühne, und das Publikum steht etwas ratlos da. Das Gleiche ist schon tags zuvor passiert, da konnte das Problem aber schneller behoben werden. Es dauert eine geschlagene Viertelstunde, bis der Ton wieder funktioniert, und danach erreicht die Stimmung nicht mehr das gleiche Level.

Das Fazit nach vier Tagen im Sittertobel: Die Technik hatte einige Mängel, der Zeltplatz war wie immer überfüllt, und einige der Headliner zogen ihre Show durch, ohne mit dem Publikum zu flirten. Dafür war das Wetter für Schlammgaller Verhältnisse fantastisch, Zwischenfälle wie das Stohfeuer wurden vom OK für Aussenstehende souverän gemeistert, und Aufsteigerbands wie «Money for Rope» brachten die Herzen zum schlagen und die Füsse zum tanzen.