Mike Müller, Markus Scheumann und Michael Neuenschwander. Tanja Dorendorf / T+T Dorendorf

Wenn der Freund der Chef ist

Das Theaterprojekt A1 – Ein Stück Schweizer Strasse feiert am 28. Mai Premiere. Mike Müller und Rafael Sanchez unterhalten sich mit der ZS über Autobahnen, Ungeduld bei der Probe und das Establishment.

24. Mai 2015

Am 28. Mai feiert A1 – Ein Stück Schweizer Strasse im Zürcher Schauspielhaus Premiere. Nach Truppenbesuch und Elternabend ist dies bereits die dritte Produktion von Mike Müller, Tobi Müller und Rafael Sanchez. Das Team bleibt seinem Erfolgsrezept – der Mischung aus Theater und Original-Videos – treu und präsentiert seine Ergebnisse aus fünfzig verschiedenen Interviews: vom gewöhnlichen Pendler über Bundesbeamte bis hin zu Wissenschaftlern; sie alle haben etwas zur Autobahn A1 zu erzählen.

Die ZS hat Rafael Sanchez und Mike Müller im Schiffbau zu einem Gespräch getroffen.

Herr Sanchez, Herr Müller, können Sie sich gegenseitig beschreiben?

Mike Müller: Arrogant …

Rafael Sanchez: Gegenseitig, nicht dich selbst! (lacht)

Müller: Ich hab’s schon verstanden. Arrogant, von sich selbst eingenommen, ungeduldig, «Fäschtbräms» …

Sanchez: Gemütlich, Bär, ein bisschen langweilig …

Müller: Einschläfernd!

Sanchez: Genau! Das ist das Wort, das ich gesucht habe.

Stichwort «Ungeduld»: Muss man als Regisseur manchmal ungeduldig sein?

Sanchez: Erst jetzt, seit ich Kinder habe, versuche ich, ein wenig ungeduldiger zu sein. Denn zu meinen Kindern bin ich sehr streng, obwohl ich sie so gerne habe – und bei den Schauspielern …

Müller: Die hast du nicht so gerne.

Sanchez: … die einem auf den Sack gehen, bin ich geduldig. Das versuche ich jetzt ein bisschen umzukehren: zu den Kindern ein bisschen netter und zu den Schauspielern ein bisschen ungeduldiger. (blickt zu Müller) Ist anscheinend noch nicht so angekommen.

In welchen Situationen muss man denn ungeduldig sein?

Sanchez: Zu Beginn einer Produktion pflege ich einen basisdemokratischen Umgang mit allen Beteiligten. Je näher die Premiere rückt, desto klarer muss man sein. Nicht unbedingt ungeduldig, aber dann ist Schluss damit, alles aufnehmen zu wollen. In den letzten beiden Wochen muss jemand da sein, der sagt, wo’s langgeht.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit, wenn der Freund der Chef ist?

Sanchez: Das ist ein bisschen wie wenn man mit seiner Frau zusammenarbeitet: Man ist immer ein bisschen gemeiner als zu den anderen. Ein bisschen direkter, manchmal auch grob.

Müller: Als Schauspieler ist man auch frecher zum Regisseur.

Sanchez: Häufig ist es nützlich, dass man so direkt kommunizieren kann. Manchmal aber auch saumühsam

Müller: Vor allem für die anderen.

Sanchez: Aber so weit ist’s jetzt noch nicht.

Wird’s dann auch persönlich?

Sanchez: Nein, nie. (blickt zu Müller) Ok, ab und zu. (zu Müller) Ich hab’s heute morgen nicht so gemeint. (beide lachen)

Zu Ihrer neuen Inszenierung. Warum machen Sie ausgerechnet etwas über Autobahnen?

Sanchez: Also ich war ja gegen dieses Thema. Man hat halt sofort RTL 2 im Kopf und ihre Pseudo-Dokus über die Autobahnpolizei, die Kontrollen macht und Leute rausnimmt, weil sie die Lichthupe betätigt haben. Deshalb bin ich zu Beginn auch ein wenig erschrocken, als Mike dieses Thema auf den Tisch gebracht hat. Wenn man einen zweiten Gedanken daran verschwendet, sieht man aber schnell, was das Interessante an dem Thema ist: Es geht um Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, um Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Und das sind Themen, die heute auch relevant sind.

Hat es viel Überzeugungsarbeit gebraucht, Herr Müller?

Müller: Das braucht’s immer. In diesem Kreis ein Thema durchzustieren ist nicht einfach. Das ist aber auch richtig, denn so ein Thema muss man nach gewissen Gefahren abklopfen. Unsere Methode mit den Interviews produziert eine Unmenge an Material. Dies führt dazu, dass auch Themen, die ich vorgeschlagen habe, durchgeflogen sind, obschon ich wunderschöne, saugescheite, glänzende Papiere dazu geschrieben und sie den beiden Herren vorgelegt und vorgetragen habe. Und nach 40 Minuten war das Thema gebodigt.

Wie muss man sich denn den Beginn einer solchen Produktion vorstellen? Setzen Sie sich da zu dritt an einen Tisch und überlegen, worüber man ein Theater machen kann?

Sanchez: Jeder von uns dreien denkt über verschiedene Themen nach. Dann überlegt man sich, was interessant ist, und worüber sich eine Recherche lohnen würde. Man muss ja bereits ein ganzes Jahr vor den Proben beginnen, die richtigen Fragen zu stellen, die man dann in den letzten sechs Wochen auf der Bühne braucht. Deshalb ist die Themafindung ein langwieriger, aber sehr wichtiger Prozess.

Müller: Unsere Zusammenarbeit verschiebt sich von Phase zu Phase. Zu Beginn sind wir zu dritt, während der Interviews sind es vor allem mein Bruder Tobi und ich. Während der Fassung kommt Rafael hin und wieder dazu, um ein wenig frischen Wind reinzubringen. Es ist eigentlich ein ähnlicher Prozess wie bei einer Liz-Arbeit: Die Abstraktionsleistung, die man am Anfang erbringt – eine gute Disposition quasi –, ist gut investierte Zeit. Alles, was man dort verschludert, bezahlt man später teuer. Man lernt bei so einem Projekt auch den eigenen Gedanken gegenüber streng zu sein Und manchmal kommt man an einen Punkt, an dem man sagen muss: Okay, vielleicht war das doch nicht so eine gute Idee.

Sanchez: Das Eingrenzen eines Themas ist ein ganz zentraler Schritt. Von 500 Transkriptionsseiten bleiben am Schluss 50 Seiten Text für die Bühne.

Müller: Wir müssen auch das Medium beachten: Macht man RTL 2 oder eine Reportage für eine grosse Zeitung oder eben ein Theater, das auch eine gewisse Vitalität auf die Bühne bringen können muss. Im Voraus kann man das nicht entscheiden. Plötzlich entscheidet Rafael in der Probe: Hier stimmt der Rhythmus nicht, von der Sprache her oder von Bildern oder den Figuren. Aber wenn man gewisse Abstraktionsleistungen im Vornherein nicht gemacht hat, erschlagen sie einen später in der Probe. Dann hat man irgendeinen Brei und zehn Tage vor der Premiere sagt man sich: «Wir bringen das jetzt mit Anstand hinter uns, aber es wird nichts mehr.» Scheitern kann man immer – aber wenn man so früh scheitert, ist’s scheisse.

Klingt wirklich nach einer Seminararbeit …

Sanchez: Das macht aber auch diese Art, Stücke zu machen, aus. Wir machen ja kein klassisches Theater, wir überlegen nicht, wie eine Figur aufgebaut ist, wo es einen Plotpoint braucht. Ja, eigentlich ist es recht trocken, was wir machen – eine Art Dokutheater. Wir erfinden ja nichts dazu, wir benutzen nur die Sachen, die die Personen in den Interviews wirklich gesagt haben.

Müller: Alles, was man an diesem Abend hört, wurde einmal genau so gesagt. Aber es ist verkürzt, collagiert, kompiliert, montiert …

Sanchez: Manchmal treten zwei Personen, die gar nie miteinander gesprochen haben, in einen Dialog.

Müller: Aber wir erfinden keinen Satz. Auch Satzabbrüche und Versprecher werden übernommen. Eigentlich ist das auch ein Oberseminar in Linguistik.

Trotzdem ist das Bühnenstück nie trocken. Zumindest Elternabend war phasenweise sehr lustig. Arbeiten Sie gezielt auf Pointen hin?

Sanchez: Im Gegenteil. Wir versuchen, alles Lustige, das uns einfällt, zu tilgen. Wir haben bestimmt jetzt schon zu viele Gags drin, die wir später wieder streichen müssen. Erstens kann man sich ganz schnell über die Interviewten lustig machen – und das ist natürlich verboten, das wäre zu billig. Darauf müssen wir sehr genau achten, denn auf der Bühne wirkt alles noch einmal anders. Andererseits muss es gar nicht die ganze Zeit lustig sein. Schliesslich ist alles echt, was gesagt wird.

Was ist denn der Reiz an dieser Form des Stückeschreibens? Es ist kein klassisches Theater mit Plot, es soll nicht lustig sein …

Müller: Es muss nicht lustig sein. Es darf, muss aber nicht.

Sanchez: Der grosse Vorteil an dieser Form ist mir erst nach Elternabend aufgefallen, als die ganzen SP-Leute vor dem Neumarkt standen und sagten «Ach, so haben wir das noch nie gesehen. Also klar, wenn das so ist in der Schule …» und so weiter: Man bekam plötzlich einen Einblick in dieses Aemtler-Schulhaus. Man ging mit der Lupe rein und hat etwas mitbekommen, das man sonst in den Zeitungen nicht mitbekommt und auch in Dokumentarfilmen nicht. Da würde man es gar nicht wagen, eine Figur zehn Minuten einfach nur reden zu lassen. Man kriegt also einen Blick in diese Sache, den man sich sonst nur sehr schwer verschaffen kann. Und dadurch, dass man die Original-Leute sieht auf der Leinwand, weiss man, dass das auch etwas Echtes ist. Und das finde ich sehr reizvoll.

Ist das die einzigartige Leistung der Bühne, die diese Mischung zwischen Nähe und Distanz schafft?

Müller: Die Distanz entsteht durch die Leinwand oder die Montage, aber das Theater ist ja das wahrscheinlich vitalste Medium überhaupt. Einfach, weil man dort so komische Leute hat, die sich dafür Geld geben lassen, um sich vor andern Leuten zu entblöden. Das ist wie bei Kindern, die mit Autos spielen, da wird das plötzlich für einen Moment echt, obschon alle wissen, dass es um halb zehn wieder vorbei ist. Dann trinken alle ein Bier und die Welt ist wieder in Ordnung.

Sanchez: Aber das passiert im besten Fall ja in jedem Theaterstück. Was uns unterscheidet, ist, dass man – ohne jetzt auf Volkshochschule machen zu wollen – etwas über’s Thema lernt und mitbekommt. Wie man bei Shakespeares Romeo und Julia etwas über Leidenschaft und Liebe lernt, lernt man hier halt etwas über ein profanes Thema.

Müller: … oder im Hamlet, wie man die Verwandtschaft umbringt. Bei uns ist’s die Autobahn und auch das funktioniert im Theater.

Der Chef und sein Freund: Rafael Sanchez (li.) und Mike Müller im Gespräch

Der Chef und sein Freund: Rafael Sanchez (li.) und Mike Müller im Gespräch

Ist das Ihr Ziel? Der Lerneffekt?

Müller: (zu Sanchez): Du kannst gleich wieder zurücknehmen was du gesagt hast.

Sanchez: Nein, es ist eben keine Volkshochschule! Das Theater muss keinen Lerneffekt in dem Sinne beinhalten. Es muss den Blick auf etwas ermöglichen, bei dem man sonst nicht die Chance hätte, es mitzubekommen. Wie beim Aemtler: Wenn man die Leute selbst reden lässt, erhält man eine Vorstellung. Man hat’s gesehen, man lernt es kennen und kann sich dadurch entspannen oder eben auch echauffieren.

Also handelt es sich um eine Art szenische Reportage? Könnte man so dieses Genre bezeichnen?

Müller: Den Begriff «Reportage» lehnen wir natürlich immer ab. Eine Reportage unterliegt erstens anderen Gesetzen als ein Theaterstück und zweitens haben wir keinen Vollständigkeitsanspruch. Wir müssen nicht alles abdecken.

Das Unterhalten ist also immer noch wichtiger?

Müller: Das ist nicht der Grund. Auch wenn wir nur mit 1:1-Aussagen arbeiten, haben wir einen künstlerischen Zugriff. Darauf legen wir Wert. Wir arbeiten nicht für eine Magazinsendung eines grossen monopolen Senders, der ausgeglichen berichten muss. So besteht nämlich die Gefahr, dass es zu einer Fleissarbeit wird. Und das Theater ist nicht so gut, wenn es fleissig ist.

Wie gestalten Sie den Umgang mit Ihren Interviewpartnern? Sind das theateraffine Leute? Verstehen die, was Sie da tun?

Müller: Gerade theateraffin sind sie nicht. Ich versuche ihnen schon zu erklären, was ich mache. Wir wollen niemanden überrumpeln, wir haben auch keine versteckte Kamera. Wir sind sehr fair, oder versuchen es zumindest. Bei Elternabend war das Problem, dass ein 15-jähriger Tamile sich nichts darunter vorstellen kann, wenn man ihm erklärt, dass man seinen Redebeitrag auf der Bühne vorspielt. Solche Leute mussten wir dann auch schützen, zum Beispiel indem wir sie anonymisierten. Man kann vielleicht eher zwischen mehr oder weniger medienaffinen Leuten unterscheiden.

Mit Dani Levys Schweizer Schönheit läuft zurzeit noch ein anderes Stück am Pfauen (grösste Bühne des Schauspielhauses), das die Schweiz zum Thema hat. Haben gesellschaftsrelevante Schweizer Themen gerade Hochkonjunktur im Theater?

Sanchez: Keine Ahnung, ich mache diesbezüglich keine Recherchen. In Deutschland jedenfalls ist das Theater viel politischer, tagesaktueller. Gerade deshalb sind die Theater auch sehr gut besucht. Es behandelt viel mehr Themen, weil auch diese Art von Rechercheprojekten vermehrt aufkommt. Aber wie es in der Schweiz zurzeit ist …

Müller: Ich habe das Gefühl, das hat es schon immer gegeben. Für mich ist das in dem Sinne nichts Neues, nur die Form hat sich geändert. Die Formvielfalt im Theater ist grösser geworden. Und wenn man ein Recherchestück macht, in dem man mit so vielen Leuten redet, ist auch klar, dass man das mit Vorteil hier in der Schweiz macht und nicht über die isländische Autobahn von Reykjavik zum Eyjafjallajökull.

Aber da stecken doch nicht nur praktische Gründe dahinter?

Müller: Nein, die Schweiz ist auch das Gebiet, auf dem wir uns auskennen und das uns interessiert. Es geht nicht darum, dass es spezifisch schweizerisch sein muss. Das Theater ist breit. Ich fände es natürlich Horror, wenn das Schauspielhaus pro Jahr 14 Produktionen über die Schweiz machen würde.

Jetzt am Pfauen: Mike Müller und Michael Neuenschwander. Tanja Dorendorf / T+T Dorendorf

Jetzt am Pfauen: Mike Müller und Michael Neuenschwander (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Dorendorf)

Eine Frage an Herrn Sanchez: Zu Ihrer Spielzeit trug das Neumarkt-Theater den Slogan «Theater fürs Establishment». Ich habe das immer ein wenig ironisch empfunden. Jetzt sind Sie am Pfauen – haben Sie’s geschafft?

Müller: (lacht laut) Das ist aber eine gute Frage!

Sanchez: Nein, Sie machen einen Gedankenfehler. Das war nämlich überhaupt nicht ironisch gemeint. Leute, die ins Theater Neumarkt gehen, müssen sehr theateraffin sein. Wenn man 15 Jahre nicht mehr ins Theater gegangen ist, geht man nicht ins Neumarkt. Die Leute, die das Neumarkt gegründet und eine solche Lücke gefunden haben, haben sich bewusst vom Schauspielhaus abgesetzt. Das ist heute nicht mehr so. All diese Leute gehören mittlerweile genauso zum Establishment. Das ist der Lauf der Dinge.

Müller: Die erste Produktion, die wir beide zusammen gemacht haben, war übrigens am Schauspielhaus! Da haben wir uns kennengelernt.

Folgt in zwei Jahren die nächste Produktion?

Sanchez (zu Müller): Ich glaube, das war deine letzte. (lacht) Ich würde sofort unterschreiben, aber das Theater muss uns auch anfragen.

Müller: Sicher werden wir weiter zusammenarbeiten. Aber in welcher Form, weiss man nie.

A1 – Ein Stück Schweizer Strasse

Ein Theaterprojekt von Mike Müller, Tobi Müller und Rafael Sanchez

Regie: Rafael Sanchez

Premiere: Donnerstag, 28.5.2015, 20 Uhr, Pfauen