Gregory Markopoulos: The Illiac Passion. zVg VIDEOEX

«Ein Film ohne gute Bilder ist nichts wert»

Mit dem Videoex-Festival hat der Experimentalfim in Zürich eine Heimat. Leiter Patrick Huber spricht über die «DJ BOBO-Ästhetik» der ZHdK und erklärt, was die Schweizer Filmszene vom Experimentalfilm lernen kann.

19. Mai 2015

Patrick Huber, was ist ein Experimentalfilm?

Als solches gibt es den Begriff, der fast kanonisiert ist. Aber es ist ein Begriff, mit dem die meisten, die in diesem Genre arbeiten, nur halb zufrieden sind. Früher waren die Grenzen des Kinos viel offener. Das heisst, dass vieles, was heute als experimentell angeschaut wird, damals Teil des Kinos war. Heute definiert man Experimentalfilm eher, und das sieht auch das VIDEOEX so, als das, was nicht narrativ und nicht dokumentarisch ist. Für das VIDEOEX ist die Methodik, herauszufinden, was experimentell ist und was nicht, zu schauen, ob der Hauptinformationsstrang die Geschichte ist oder die Bilder.

Entsteht aber nicht zwangläufig eine Narration durch die Bildabfolge?

Nein, natürlich nicht. Es gibt formale Filme, die eine Bildidee entwickeln. Aber auch Filme, die grundsätzlich durch Bilder etwas entwickeln. Man kann es vergleichen mit Neuer Musik oder Impro-Musik, wo man auch nicht eine Melodie hat, die durchgeht, wie bei Pop oder klassischer Musik. Es ist ja erstaunlich. Bilder sind extrem wichtig im Film. Und trotzdem wird in der Kinowelt immer auf die Schauspieler und die Narration geschaut.

Gibt es da nicht Tendenzen, dass sich das gegenseitig befruchtet?

Das macht es natürlich sowieso. Hollywood hat die ganze Zeit vom Experimenalfilm-Kuchen gefressen. Es ist sogar so, dass grundsätzlich eine Zeit lang die Special Effects, die ganze Art zu schneiden, die ganze Art, mit dem Bild umzugehen, aus dem Experimentalfilm gekommen ist. Und oft sind es berühmte Experimentalfilmer, die für Hollywood gearbeitet haben, weil sie Sachen machen konnten, die die anderen nicht konnten. Sachen, die sie selbst entwickelt haben.

Ein Beispiel?

Das sind Leute aus den Sechzigern und Siebzigern, die man im Mainstream nicht kennt. Und die man auch nicht als Hollywood-Aushängeschilder kennt. Wo man diesen Einfluss aber

eindeutig sieht ist bei den Oscars, wenn Menschen für ihr Lebenswerk geehrt werden. Und diese die zwanzig Filme aufzählen, die sie am meisten beeinflusst haben. Davon sind immer ein Drittel experimentelle Arbeiten.

Ist der Experimentalfilm poetischer als der klassische?

Ganz klar. Das ist das spannende am Film mit Bildern, im Gegensatz zu Geschichten und Hollywood, wo alles stark kodiert ist und wo diese Kodierung ein Grundpfeiler ihres Funktionierens, ihres System, ist. Blödes Beispiel: Titanic: Der Film wird ein Erfolg in den USA, in Europa in Japan, in Australien. Und mehr oder weniger kriegen sie es auf die Reihe, dass alle diese Kulturen in der selben Minute Tränen in den Augen haben. Das heisst, der Film hat eine extreme Kodierung, damit das funktioniert. Das Spannende an Filmen, die den Fokus auf Bilder und nicht auf Narration legen ist, dass wir alle eine eigene Rezeption auf diese Bilder haben. Das heisst: Dasselbe Bild bedeutet nicht dasselbe für mich wie für dich. Und dementsprechend gibt es ein Zwischenfeld, mit dem auch die Poesie im Text arbeitet. Poesie macht das mit der Sprache, indem sie Wörter aneinander setzt und wir dann den Leerraum füllen. Experimentalfilm macht dasselbe anstatt mit Wörtern, mit Bildern.

Expermentalfilm kann also keine Erzählung für die Masse, einen ganzen Kinosaal sein?

Ja grundsätzlich stimmt das. Kino ist ein Massenmedium wegen der Rezeption für Auge und Ohr. Diese Synchronizität ist extrem spannend. Das Hirn ist automatisiert auf diese Synchronität und genau das braucht Hollywood. Was Hollywood aber macht, ist eine Linie, die Narration zu legen. Und darauf kommen mehr Linien, das heisst, Schauspieler, Farbe, der Ton, alles ist parallel zur Narration aufgebaut. Das heisst, es verdoppelt, verstärkt die Narration. Und im Experimentalfilm sind das mehrere Ebenen, die miteinander spielen. Was grundsätzlich einfach spannender ist. Es ist von der Seite der Rezeption, ein bisschen schwieriger, könnte man sagen, aber sicher viel spannender.

Bei Hito Steyerl, die ihr im Programm habt, kommen auch politische Themen in den Blick. Kann ein Film ohne Narration politisch sein?

Es ist ja nicht so, dass es keine Geschichten gibt. Sie sind einfach nicht der Hauptstrang des Films. Es gibt sehr wohl Geschichten. Geschichten, die verschwinden und wieder kommen. Ein Gedicht kann ja auch sehr politisch sein. Bilder an sich können eine sehr starke politische Aussage haben. Heute kommt ja keine Zeitung mehr ohne Bilder aus und diese Bilder haben oft die stärkere Wirkung als der Text dazu. Ganz abgesehen vom Politischen ist die offizielle Filmwelt immer noch extrem daran interessiert Experimentalfilme zu haben und versucht auch, ihre Grenzen zu erweitern.

Das heisst der Experimentalfilm muss immer ein neue Nische finden, um sich neu definieren zu können?

Sagen wir so: Wenn man von den Zwanzigerjahren spricht, dann spricht man immer vom Avantgardefilm. In Wirklichkeit gab es Produktionshäuser, die fast einen Film pro Tag herausgespickt haben. Unterhaltungsfilme, die die Masse geschaut hat. Die sind aber jetzt verschwunden. Heute ist das nicht wirklich anders. Es ist einfach eine andere Sprache, ob man mit Bildern etwas erzählt, oder diese Narration das Hauptelement ist. Im Prinzip finde ich das immer noch absurd, wenn Filme nur nach einem Skript gemacht werden.

Wieso?

Jedes gute Skript ist nichts wert, ohne gute Bilder. Der Film ist nichts wert, wenn die Bilder nichts wert sind.

Das ist doch aber einfach eine andere Herangehensweise, um etwas erzählen zu wollen?

Nein. Die guten Filmemacher, dass sind die, die gute Bilder machen, nicht die, die gute Skripts haben. Das ist die Wirklichkeit. Das sind auch die, von denen im Kino alle fasziniert sind. Wenn die Bilder schlecht sind, kann man sie fortwerfen. Ein gutes Skript auf TV-Serie-Niveau kann man wegwerfen ohne gute Bilder.

Da könnte man dagegenhalten, dass z.B. an der ZHdK die Qualität der Bilder extrem hoch ist. Also das Handwerk der Ästhetisierung gelernt…

Die sind einfach voll in der Werbeästhetik drin. Die ist für Werbung gut und relativ unspannend.

Oder für Spielfilme.

Jein. Es kann sich knapp nur James Bond diese Ästhetik leisten und sonst niemand mehr. Klar gibt es Blockbuster, die so aufgebaut sind, aber das ist ja einfach Mainstream.

Von was für einen Ästhetik reden wir genau?

Wir sprechen von DJ Bobo. Diese Ästhetik ist DJ Bobo in der Musik.

Für dich, der sich mit Experimentalfilm befasst oder generell für jemanden, der Film als Kunst ernst nimmt?

Sie versuchen eine Ästhetik nachzumachen, die in den Siebzigern bis Neunzigern entwickelt wurde und machen das auch nicht allzu schlecht. Aber heute ist das nicht mehr so viel wert. Es ist nicht spannend. Klar, ihre Probleme sind natürlich eher, dass ihre Filme keinen Inhalt haben.

Darauf wollte ich eigentlich hinaus. Dass gute Drehbücher Mangelware sind.

Sie haben vom Skript her keinen Inhalt und von den Bildern her eben auch nicht.

Das heisst für dich sind diese Filme völlig unbrauchbar.

Nein, das ist eine super Visitenkarte für zukünftige Jobs in der Werbebranche.

Du würdest also sagen, an der ZHdK lernt man nicht, Spielfilme zu drehen?

Sagen wir es so: An der ZHdK wird den Leuten, die etwas «aus sich heraus» haben, die Tools gegeben, um das Richtige zu machen. Diejenigen, die von sich aus nichts haben, die bekommen auch nichts. Schlussendlich braucht die Filmbranche der Schweiz diese Leute, die diese konventionellen Bilder für Trailer, fürs Fernsehen, für Werbung herstellen können. Von dem her ist es gerechtfertigt, diese Leute auszubilden. Und natürlich gibt es auch jene, die da reinkommen und weitergehen und etwas anderes daraus machen wollen. Aber es ist nicht eine Schule, in der etwas anderes als die Konvention gefördert wird.

Diese Art Film lässt sich einfach theoretisieren. Geht das beim Experimentalfilm auch?

Klar, es wird einfach seltenerer oder nicht gemacht und ist natürlich viel komplizierter.

Warum wird es nicht gemacht?

Das würde ich die Filmwissenschaftler der Uni sehr gerne fragen. Bei den Filmwissenschaften in Zürich erscheint der experimentelle Film als Avantgarde in den Zwanziger- und Dreissigerjahren und danach nicht mehr. Und natürlich, wenn man sich überlegt, wofür die Leute nachher gebraucht werden, ergibt das auch Sinn: die Schreiben später die Filmrezensionen über Mainstreamfilme.

Kann man darin die Ökonomisierung des Studiums sehen?

Klar. Ganz stark. Von der wissenschaftlichen Seite her wäre es natürlich schon spannend, wie die ganze Bedeutung, die Bildsemiotik und -semantik vonstatten geht. Das ist ein sehr spannendes Feld, das aber wenig beackert wird.

Kann man denn überhaupt eine objektive Sichtweise auf Experimentalfilme anlegen?

Jein. Grundsätzlich kann man bis zu einem gewissen Grad herausfinden, ob ein Werk funktioniert. Ob es tragt, ob der Rhythmus funktioniert, ob der Schnitt funktioniert, ob der Inhalt entwickelt wird.

Das wäre sozusagen der Ansatz einer Theoretisierung.

Das ist das eine. Das andere wäre die Untersuchung, wieso ich ein Bild anders betrachte als du. Wir sehen nicht dasselbe. Du hast vielleicht einen Grossvater gehabt, der immer diese Äpfel (zeigt zur Früchteschale) gehabt hat und ich hab die jetzt halt in der Migros gekauft.

Besteht nicht die Gefahr, dass man in einen Relativismus hineinfällt? Ein Film gefällt mir, der andere dir. Ein Qualitätsmerkmal herauszuschaffen ist doch da extrem schwierig?

Es ist sicher schwierig. Aber es ist tatsächlich so, dass es ein paar Filme gibt, die funktionieren und andere nicht.

Also kann man vielleicht sagen, Experimentalfilm bietet eine faire Möglichkeit, etwas zu beurteilen. Ein wenig wie ein Gedicht.

Was ist ein gutes Gedicht? Das ist ja genau die gleiche Frage. Kann man ein Gedicht beurteilen?

Poetologen würden sagen ja, das kann man.

Genau, das ist der Punkt. Aber würdest du sagen, du kannst ein Gedicht beurteilen?

Ja natürlich, nach meinem Gutdünken.

Eben ganau. Das heisst, du kannst sagen, ob dir das Gedicht gefällt oder nicht. Aber du kannst mir nicht sagen, ob es gut ist oder nicht. Das sind zwei verschiedene Stufen. Und das Spannende ist ja, dass du, obwohl du nicht beurteilen kannst, ob es gut oder schlecht ist, sagen kannst, dass es dir gefällt. Und das ist derselbe Punkt in der Beziehung zu Bildern; die Beziehung zum Film, wenn er gut gemacht ist.

Zum Festival: Ist die relativ bescheidene Grösse des Videoex eine bewusste Entscheidung? Die Luft nach oben wäre im Prinzip ja offen, oder nicht?

Wir arbeiten grundsätzlich in einem widrigen Umfeld. An der ZHdK kommt Experimentalfilm nicht vor, bei den Filmwissenschaften an der Uni spätestens mit dem Abgang von einigen Leuten ebenfalls nicht mehr. Das heisst, wir haben mehrere Generationen von jungen Filmwissenschaftlern, die keine Ahnung von Experimentalfilm haben. Die erste Generation, die VIDEOEX gemacht hat, bestand aus Filmwissenschaftlern, die sehr wohl eine Ahnung von Experimentalfilm hatten und davon begeistert waren.

Und das andere ist, dass wir hier in der Schweiz der einzige Anlass im Jahr sind, der sich mit Experimentalfilm beschäftigt. Das heisst, wir müssen das Publikum jedes Jahr wieder neu schaffen. Klar haben wir ein Stammpublikum. Aber es gibt kein Publikum, das sich das ganze Jahr durch mit experimentellen Filmen beschäftigt und das man abrufen kann. Das sind sicher zwei Faktoren, die die Grösse des Festivals ausmachen.

Das Videoex gibt es jetzt schon 17 Jahre. Jemand, der als Kind hier war, könnte jetzt ja schon hier mitmachen.

Es ist natürlich immer so, dass ein Teil des Teams sich aus den Leuten, die ans Festival kommen, entwickelt. Die sind dann 2-3 Jahre dabei und dann wieder weg sind. Zürich ist da ein hartes Pflaster. Wenn man in einem gewissen Alter ist und eine Familie will, dann hat man keine Zeit mehr um ein Festival zu planen und produzieren.

Gilt das auch für das Publikum?

In einer Stadt wie Zürich, wo alle gestresst sind, will man natürlich eher entspannen, wenn man Zeit hat und kommt dann nicht an ein Festival für Experimentalfilm.

Und geht dann lieber ans Zürich Film Festival (ZFF). Das wäre ja die andere gangbare Schiene für euch gewesen, die Professionalisierung im Sinne der Grösse und Gelder?

Sagen wir so, wenn man die Qualität der «Artistic Direction» des ZFF in den ersten drei Jahren anschaut, wäre das Wort Professionalisierung nicht angebracht. Inzwischen ist das sicher anders. Sie waren sehr professionell im Gelder suchen. Ihr Programm hat aber nicht dem entsprochen, was sie vorgegeben haben.

Und euer Programm?

Unser Programm ist ,glaube ich, ganz OK, für das, was wir machen. Wenn man die Leute, die sich damit beschäftigen fragt, und das kann man ja auch in New York, London oder Berlin, dann haben wir eine relativ hohe Akzeptanz. Von dem her glaube ich, das VIDEOEX-Programm ist qualitativ relativ hoch.

Internationalität ist ja auch ein Thema. Gibt es da Zusammenarbeit?

Es kommt immer wieder vor, dass VIDEOEX Schweizer Filme im Ausland präsentiert. Vor kurzem war das in Milano und vorher in Belgrad.

Wo siehst du die Zukunft des Videoex?

Das wird sich weisen. Ich denke es hat inzwischen eine gewisse Stabilität. Reizvoll wäre sicher, wenn man das Setting drumherum mehr in unsere Richtung verändern könnte. Also wenn man die Samen bei der Filmwissenschaft der Uni, der ZHdK und der F+F legen und das Verständnis verbreitern könnte. Das würde der Schweizer Filmszene meiner Meinung nach gut tun. Für mich ist es immer noch ein Rätsel, wieso die Schweiz versucht in dem Feld von Mainstream-Narration festzuhalten. Obwohl man eindeutig keine Chance hat. Die Produktionsparameter, die es braucht, um erfolgreiche Filme in diesem Bereich zu machen, kann die Schweiz nicht bieten.

Jedes kleine Land, das Erfolg hat, hat mit ‚anderen’ Filmen angefangen. Die Schweizer Peter Liechti oder Peter Mettler sind weit von irgendwelchen narrativen Standards und das sind die zwei Künstler, deren Filme sicher am meisten an internationalen Festivals gezeigt worden sind. Von dem her ist mir die Fokussierung auf das enge narrative Korsett ein Rätsel. Aber es sind ja nicht einzelne Personen, die etwas bewegen. Bei Dogma in Dänemark beispielsweise war es eine ganze Schule, von der die meisten nur die Spitzenfiguren wie Lars von Trier kennen. Wenn man es geschichtlich anschaut, sieht man dann, was alles dahinter funktioniert hat und bewegt wurde.

Vielleicht auch weil die Politik dafür stimmte?

Wahrscheinlich auch, weil die Filmförderung genug offen war und realisiert hat, dass man mit dem Budget der dänischen Filmförderung nicht mit Hollywood mithalten kann. Das sollte auch der Schweizer Filmförderung zu denken geben.

Patrick Huber ist Mitbegründer und Leiter des Videoex. Die diesjährige Ausgabe organisiert er mit einem Team von rund 20 Leuten.

Das Experimentalfilmfestival findet vom 23. – 31. Mai im Kunstraum Walcheturm statt. Auf dem Programm stehen neben Schweizer Produktionen und einem Internationalen Wettbewerb Filme aus Portugal. Zudem finden Workshops für Erwachsene und Kinder statt. Mehr Informationen auf videoex.ch