In Köppels Kopf regiert Helvetia. Nora Gsell

Kampf um die Geschichte

Die Schweizer Volkspartei führt einen Grossangriff auf das Fach Geschichte an der Uni Zürich. Die Gegenwehr ist nicht der Rede wert.

2. Mai 2015

Mit Mörgeli fing alles an. Die Entlassung des damaligen Leiters des Medizinhistorischen Instituts im September 2012 war Anlass zu einer Kampagne, welche die Uni Zürich und spezifisch das Historische Seminar (HS) in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Die SVP benutzte die Causa Mörgeli als Aufhänger für Angriffe gegen dessen vermeintlich linkslastige Ausrichtung. Während der folgenden zweieinhalb Jahre schossen die SVP und die ihr nahestehende «Weltwoche» sich zunehmend auf persönlicher Ebene auf Angehörige des HS ein.

Mit Titelstorys wie «Vor diesen Professoren wird gewarnt» und «Die Geliebte des Historikers» attackierte und diffamierte insbesondere «Weltwoche»-Redaktor Philipp Gut die Professoren Sarasin und Goltermann aufs Gröbste. Mit der Abschaffung des Fachs Schweizer Geschichte Ende 2014 verlagerten sich die Angriffe nun scheinbar auf die inhaltliche Ebene.

Dekonstruktionswahn?

In der «Basler Zeitung» kritisierte der Wirtschaftshistoriker und Zürcher Titularprofessor Tobias Straumann seine Zürcher Kollegen, weil sie sich weigern würden, an politischen Debatten teilzunehmen. Gleichzeitig plädierte er dafür, dass der «Sonderfall Schweiz» stärker betont werden sollte. Nach Straumann soll ein Geschichtsstudium dazu dienen, dass «ein Grundverständnis der Schweiz in die Verwaltungen, Redaktionen und Schulen hingetragen» werde. Nur so könne dies im «Auftrag des Steuerzahlers» gerechtfertigt werden. Straumann klagte zudem über den vermeintlich allgegenwärtigen Dekonstruktionswahn an der Uni Zürich: «Nichts hat stattgefunden, alles ist nur eine nachträgliche Vereinfachung», fasst Straumann die Arbeit seiner Kollegen salopp zusammen.

Vierfaches Jubiläumsjahr

Interessanterweise sind es genau diese Töne, die auch von Christoph Blocher und Konsorten in fast identischer Form in der aktuellen Debatte um Schweizer Mythen angeschlagen werden. Das vierfache Jubiläumsjahr (Schlacht am Morgarten, Eroberung des Aargaus, Schlacht bei Marignano und Ende des Zweiten Weltkriegs) gab Anlass zu einer Flut von Veröffentlichungen und Veranstaltungen zur Frage nach der Deutungshoheit über die Schweizer Geschichte. Ob im Feuilleton der «NZZ», im Lake-Side-Kongresssaal,oder an einer Podiumsdiskussion im Uni-Hauptgebäude; überall wird diskutiert, was diese Ereignisse und die Mythen drumherum für die heutige Schweiz und ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu bedeuten haben.

Dabei begeben sich die wenigen Historikerinnen und Historiker, die sich auf solche Debatten überhaupt einlassen, aufs Glatteis. Sie akzeptieren damit nämlich die Prämissen der SVP-Rhetorik und lassen sich dazu drängen, die Geschichte als Wissenschaft von Wahrheit und Fakten zu verteidigen. Die andere Seite kann so den Schutz der Eidgenossenschaft vor dieser wissenschaftlichen Faktenklauberei für sich reklamieren. Dass es der SVP freilich nicht um die akademische Debatte geht, macht ihr Chefstratege ohne Umschweife deutlich: «Das hier ist kein Historikerstreit, das ist ein politischer», so Blocher in der Debatte mit dem Schweizer Historiker Thomas Maissen, der als einer der Wenigen persönlich in den Ring stieg. Dass Maissen in Paris arbeitet, machte ihm Blocher gleich zum Vorwurf: Keiner der «ach so gschiide Professore vo Züri« habe sich dazu bereit erklärt, mit dem Hobbyhistoriker und dem Moderator des Events, Parteigenosse Roger Köppel, zu diskutieren. Es ist aber nachvollziehbar, dass man sich als Forscherin oder Forscher nicht in diese Schlangengrube hineinbegeben möchte.

Maissen ertrug für knapp zwei Stunden geduldig Blochers wirre Tiraden über die Tücken der EU und seine Erfahrungen als internationaler Unternehmer, Köppels Sticheleien und den tosenden Applaus von Blochers persönlichem Fanclub. Als auch Maissens Äusserungen von einer deutlichen Minderheit beklatscht wurden, unterstellte ihm Blocher sofort, er habe wohl seinen «ganzen historischen Tross mitgebracht».

Schön wärs. Leider beschränkte sich der Beitrag der betroffenen Zürcher Historikerinnen und Historiker bisher weitestgehend auf erschreckend zahme Kommentare im Feuilleton und Andeutungen in vereinzelten Vorlesungen. Selbst auf dem eigenen Terrain konnte man bisher nicht überzeugen. Während der Podiumsdiskussion im Uni-Hauptgebäude Ende März vermochten die Teilnehmenden den von der SVP abgesteckten Rahmen nicht zu verlassen. Kein kritisches Wort fiel über die Verwendung des Begriffs «Mythos». Niemand machte sich die Mühe, Definitionen nach Freud, Lévi-Strauss oder Barthes auch nur zu erwähnen, obwohl es sich dabei um Theorien handelt, auf die alle Studierenden in den Kursen getrimmt werden. Vielmehr beeilte man sich, zu versichern, auch Mythen hätten ihren Platz in der Geschichte.

Wildern im Territorium

Auch der Begriff «Konstrukt» wurde der SVP weitestgehend kampflos überlassen. Anscheinend war keinem der Anwesenden daran gelegen, diesen Kernbegriff in irgendeiner Form zu kontextualisieren. Kein Wort darüber, dass «konstruiert» nicht «gefälscht» bedeutet oder als Gegensatz zu «natürlich gewachsen» verstanden werden soll. Hinter jedem Mythos steht eine Geschichte von Überlieferung und Übertragung. Den Mythos als konstruiert zu bezeichnen, bedeutet lediglich, aufzuzeigen, welche Leute, Mechanismen und Institutionen dafür gesorgt haben, dass er uns der heutigen Form vorliegt. Aber von all dem sprach niemand.

Wie kann das sein? Die SVP wildert fröhlich im Territorium der Historikerinnen und Historiker, und diese schauen zu. Blocher schickt sich an, die Schweizer Vergangenheit zu retten, und seine vermeintlichen Kontrahenten überlassen ihm das Feld. Die Professorenschaft des HS schottet sich ab, anstatt öffentlich für ihre eigene Arbeit und auch für uns Studierende einzustehen. Den Attacken, die ihre und unsere Daseinsberechtigung in Frage stellen, lässt sich nicht allein mit Schweigen begegnen.

Einmischen!

Erwerben wir die Werkzeuge wie kritisches Denken, stringente Argumentation und rhetorische Fähigkeiten lediglich für das Bestehen von Leistungsnachweisen? Sind wir nicht verpflichtet, einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs zu leisten und zu lernen, uns auch ausserhalb unseres Fachs verständlich zu machen?

Blochers Kritik an der Abgehobenheit der linken Intellektuellen greift leichter, solange wir uns einem Dialog mit einer breiteren Öffentlichkeit verweigern und uns scheuen, zu politischen Themen Stellung zu beziehen. Wenn wir uns weiterhin vor derartigen Konfrontationen drücken, überlassen wir die Geschichte dem Kampf politischer Parteien.

Kommentar zur Geschichts-Debatte