Jus-Studentin Israa: Palästinenserin mit iraelischem Pass. Gian Steiner

«Ich bin palästinensischer geworden»

Seit die Palästinenserin Israa in Jerusalem Recht studiert, ist sie auf der Suche nach ihrer Identität.

2. Mai 2015

Das Foto einer Wandtafel, auf der in weisser Kreide geschrieben steht «Death to the Arab Cancer», flackerte über den Handybildschirm, als Israa den Facebook-Gruppenchat öffnete. Der Junge, der das Bild gesendet hatte, sass gerade in einem Klassenzimmer an der Uni und kommentierte: «Das ist noch schlimmer als die Prüfung, die ich jetzt schreiben muss.» – «Das war einer dieser Momente, die mir plötzlich die Selbstverständlichkeit für meinen Alltag entrissen», sagt Israa. Die 22-Jährige studiert Jura an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ist Palästinenserin; arabische Muslimin mit israelischem Pass.

Plötzlich fremd im eigenen Land

Die meisten Reaktionen der Kommilitoninnen und Kommilitonen auf den Spruch an der Tafel seien mitfühlend gewesen, sagt Israa. Ein Student schrieb jedoch, dass Redefreiheit nicht nur für eine Seite gelte. Von da an wurde die Diskussion im Chat so aufgebracht und kompliziert wie das Leben in Jerusalem, der Stadt, in der Israa wohnt.

«Seit ich hier bin, ist jedes Jahr anders», erzählt sie. Das erste an der Uni sei das schwerste gewesen. Mit 18 zog sie von ihrem Dorf Sulam, im Norden von Israel, in die umstrittene Stadt. Sie ist die Jüngste von acht Geschwistern, sechs Mädchen und zwei Jungen. Sie wollte unbedingt an die Juristische Fakultät der Hebräischen Universität, weil diese den Ruf hat, die beste im Land zu sein. Für die Aufnahme müssen zwei Tests bestanden werden und für alle, deren Muttersprache nicht Hebräisch ist, zudem ein Sprachtest.

«Fremdsprachig» sind in Israel nicht nur die vielen zugezogenen Jüdinnen und Juden aus aller Welt und die internationalen Studierenden, sondern auch die Palästinenserinnen und Palästinenser mit israelischem Pass. Arabisch ist zwar die zweite offizielle Landessprache und Unterrichtsprache an arabischen Schulen, doch an den national und international anerkannten Universitäten wird in Hebräisch und Englisch unterrichtet. «Ich war zuvor schon in jüdischen Städten oder habe in jüdischen Läden eingekauft», sagt Israa, aber die Uni verlange ein anderes Niveau an Sprachkenntnissen. «Im ersten Jahr hab ich nie mitbekommen, wenn ein Professor einen Witz machte, bis alle um mich herum gelacht haben.» Viele Leidensgenossinnen und -genossen gab es nicht, denn unter den fast 400 Jus-Studierenden waren nur etwa acht arabische, erzählt Israa. Diese sind, wie Israa auch, meist viel jünger als die jüdischen Studierenden.

Jüdinnen absolvieren zwei, Juden drei Jahre Militärdienst und reisen danach oft mit dem Rucksack durch Asien oder Südamerika. Arabische Jungen und Mädchen beginnen dagegen oft direkt nach der Schule mit der Uni – sie sind vom Militärdienst befreit und planen oft kein Zwischenjahr im Ausland. Nicht nur die Anpassung an das neue Umfeld und die neue Sprache seien schwierig gewesen – auch das politische Klima in der Stadt war gewöhnungsbedürftig. «Ich dachte wirklich, die Welt sei rosa – bis ich nach Jerusalem kam», witzelt Israa.

Ein feministischer Muslim

Das Dorf Sulam liegt neben Merhavia, einem jüdischen Kibbuz. Etwas weiter liegt Afula, eine jüdische Stadt, wo Israas Vater arbeitet. Die Region, aus der Israa stammt, ist friedlich: Auf den Strassen wird Hebräisch und Arabisch gesprochen. Auch zuhause sei sie behütet gewesen. «Ich sage meinem Vater immer, er sei ein Feminist, der davon nichts wisse.» Keine ihrer Schwestern durfte heiraten, ohne eine Ausbildung abgeschlossen zu haben. Das stiess im Dorf nicht nur auf Verständnis. «Die Leute fragten meinen Vater, wieso ihn die Ausbildung seiner Töchter so kümmere. Letztlich würden wir doch nur heiraten und Kinder bekommen.» Heute wandle sich diese Mentalität langsam, sagt Israa. Aber zu Zeiten, als ihre Schwestern jünger waren, war die Einstellung ihres Vaters unüblich.

Verwirrung der Identitäten

Seit sie an der Hebräischen Universität studiere, habe sich vor allem etwas verändert, sagt Israa: «Ich bin palästinensischer geworden.» Das sei zunächst kein politischer Prozess gewesen. Israa will sich im Konflikt um die besetzten Gebiete nicht auf eine Seite schlagen. Doch im zweiten Studienjahr sei ihr klar geworden, dass sie keine richtige Identität habe – das musste sie ändern.

Damals nahm Israa an einem Programm der Uni teil, bei dem sieben arabische und sieben jüdische Studierende ihre Perspektiven austauschen sollten. «Die jüdischen Studierenden wussten genau, wer sie sind – die lernen das schon von klein auf», erzählt Israa. In Israel pflegt man die jüdische Kultur, welche auf allen Ebenen mit der Landesidentität verwoben ist: Von vielen Dächern winkt der Davidstern, man zelebriert jüdische Feiertage, und die Geschichte des Landes lernen schon die Kleinsten. «Da gehöre ich überall nicht dazu«, sagt Israa. Doch erst als ein Versuch, ihre Identität in einem Seminar an der Uni zu schildern, scheiterte, spürte sie diesen Ausschluss «an der eigenen Haut», wie sie sagt.

Weil es in ihrer Schule nicht behandelt wurde, recherchiert Israa die palästinensische und arabische Geschichte heute selber nach und möchte noch mehr über arabische Kultur wissen. «Es gibt viele Musiker, die ich gerne einmal live sehen würde», doch keiner davon spiele Konzerte in Israel. Nach Beirut reisen, wo die meisten spielen, könne sie mit ihrem israelischen Pass nicht.

Graben zwischen Muslimen

Die Frage nach ihrer Identität sei aber noch etwas komplexer, meint Israa. «An der Uni halten mich die meisten zunächst für eine Jüdin, weil ich keinen Schleier trage und mich modern kleide. Ich bin aber Muslimin und teile vieles, was der Islam lehrt. Das ist für mich allerdings mit Homo-Ehe und liberalen Freiheiten vereinbar», sagt sie. «Man bekommt hier von allen Seiten generalisierende Labels. Es gibt muslimische Studenten, die reden nicht einmal mit Mädchen. Andere trinken Alkohol und haben kein Problem, das herumzuerzählen.» Zwischenmenschlich seien die Differenzen zwischen konservativen und liberalen Muslimen oft viel

grösser als die zwischen Juden und Arabern, meint Israa. Sobald es aber um Politik geht, wird letztere Unterscheidung stark betont – und in Israel wird jedes Pausengespräch irgendwann politisch. «Wenn wir – wie immer – in einer Diskussion bei der Politik landen, sagen wir oft: Was diskutieren Studis in der Schweiz wohl so – das ist echt unser Running Gag.»

Anwältinnenkanzlei

«Es ist komisch: In guten Zeiten glaube ich oft, mein ganzes Leben sei selbstverständlich, obwohl in diesem Land alle wissen, dass nichts selbstverständlich ist.» Nach der Uni will Israa als Anwältin für Arbeitsrecht arbeiten. Wo, weiss sie schon: In einem feministischen Büro, das sich statt Anwaltskanzlei Anwältinnenkanzlei nennt.