Professor Berndt wäre gerne Fussballer geworden. Nina Fritz

Herr Berndt: Ist der 1. Mai eine Farce?

Arbeitsforscher und Wirtschaftsgeograph Christian Berndt über Lieblingsberufe, Migration und den 1. Mai.

2. Mai 2015

Herr Berndt, wie feiern Sie den 1. Mai?

Nicht wirklich. An meinem 1. Mai hier in der Schweiz bin ich mit meinem Sohn und mit meiner Tochter auf das Kasernenareal gegangen. Über die Zeit hat sich das ja zu einem Tag entwickelt, an dem man nicht arbeitet. Aber man setzt sich dann trotzdem vor den Computer und arbeitet etwas.

Am Tag der Arbeit mobilisieren die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie Zehntausende zu einem grossen Fest. Dabei spricht man seit den Siebzigerjahren von einer Krise der Arbeit. Ist der 1. Mai nicht eine Farce?

Nein, ich denke, dass der Tag noch immer seine Bedeutung hat. Weil er ein paar wichtige Dinge in den Blick rückt: gerade die Rolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, die Arbeit über weite Strecken des 20. Jahrhunderts geprägt haben und noch heute wichtig sind. In der Schweiz von einer Krise der Arbeit zu sprechen ist auf den ersten Blick nicht etwas, das man machen würde. Man hat im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern kaum Arbeitslosigkeit. Dennoch gibt es einige Punkte und Problemlagen, die man ansprechen muss. Themen, die eher verborgen sind.

Verborgene Themen?

Man hat auf alle Fälle eine Tendenz zu Prekarisierung und Entgrenzung. Also wo man die Grenze nicht mehr ziehen kann zwischen Arbeit und Privatem. Und man hat in der Schweiz auch Bereiche, in denen ich mir schwer vorstellen kann, wie man mit den Löhnen über die Runden kommt. Das sind ja auch Themen, die wir bearbeiten: Hausarbeit, Pflege, Reinigung, kurz: der Niedriglohn-Sektor.

In den Boomjahren nach dem 2. Weltkrieg sprach man von der Arbeitsgesellschaft. Arbeit hat sich seither stark gewandelt. Der industrielle Sektor kollabierte, zwei Drittel der Arbeitnehmenden sind heute Dienstleistungssektor tätig. Was ist mit der guten alten Arbeit passiert?

Es gibt ja den Begriff der «Normalarbeit». Was nicht heisst, das die Mehrheit der Leute so gearbeitet hat. Sondern, dass überwiegend eine Norm vorhanden war, nach der die Leute trachteten und strebten. Diese Arbeit ist sicher nicht verschwunden. Viele würden sagen: gut entlohnt, permanent, sicher, das sind immer noch Wünsche. Aber diese Norm ist immer weniger der Normalfall. In Städten wie Zürich oder generell Metropolen geht die Tendenz zu anderen Formen der Arbeit. Wie gesagt: Entgrenzung, projektförmige Arbeit, mehr Wechsel der Arbeit. Und häufig auch Teilzeitarbeit, vielleicht mehr als in Deutschland. Das heisst, nicht immer nur freiwillige Teilzeitarbeit, sondern dass man auch gezwungen ist, so zu arbeiten.

Jakob Tanner und Brigitta Bernet bezeichnen in ihrem neuen Buch «Ausser Betrieb» die «Normalarbeit» als historischen Ausnahmezustand. Können Sie dem zustimmen?

Man kann auf zweierlei Arten darauf antworten. Es gibt diese Normalarbeit, die im fordistischen Zeitalter aufgekommen ist, das ist das Eine. Aber eben auch, dass es nicht so sehr normal war, sondern eine Norm, der man nacheiferte. Darauf fusst ein ganzes Gesellschafts- und Familienbild. In Deutschland und der Schweiz war das sicher eine weit verbreitete Form von Arbeit. Das hat sich aber in den letzten Jahrzehnten stark verändert. In diesem Sinne ist «Normalarbeit» schon eine historische Ausnahme.

Die Gewerkschaften kämpfen heute vor allem darum, Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats zu erhalten. Dennoch nimmt die Prekarisierung und Flexibilisierung von Arbeit immer mehr zu. Die Lohnschere geht auseinander. Wie sehen Sie die Zukunft? Wird das wieder besser?

Gemeinhin wird gesagt, dass die Gewerkschaften an Bedeutung verlieren, so wie andere Institutionen, zum Beispiel die Kirche. In der Tendenz mag das so sein, aber man sieht in Deutschland zum Beispiel auch das Gegenteil. Dass Gewerkschaften wieder Zuwächse haben. Es gibt aber das Problem der Gewerkschaften, gewisse Segmente der Arbeit überhaupt in den Griff zu kriegen. Die IG Metall in Deutschland zum Beispiel bewirtschaftet weiterhin ein Segment, in dem Leute auch gemerkt haben, dass es doch hilfreich ist, einen starken gewerkschaftlichen Hintergrund zu haben. Aber die prekarisierten Bereiche, die wir gerade angesprochen haben, sind solche, die relativ gering organisiert sind, und dort haben die Gewerkschaften nach wie vor Mühe, Fuss zu fassen. Bei den Gewerkschaften, die in Branchen mit höherem Organisationsgrad wirken, schwingt demgegenüber leider auch ein gewisser Konservatismus mit.

In diesem Sinne sind Gewerkschaften auch etwas Elitäres?

Jede Organisation hat ein gewisses Innen und Aussen. Es gibt auch Ansätze, dass man sagt, man möchte exklusive Errungenschaften für die Mitglieder erkämpfen. Da gibt es natürlich einen gewissen elitären Charakter. Ich würde das aber nicht verallgemeinern.

Jeremy Rifkin sah in der Automatisierung eine Emanzipation von der Fabrikarbeit. Die Hoffnung, dass wir alle nur noch zwei bis vier Stunden pro Woche arbeiten müssten, schwebt noch immer in populären Ratgebern herum. Ist das reine Utopie?

Im Prinzip ist es so, dass die Vorteile der Automatisierung und Effizienzsteigerung nicht immer an die Arbeitnehmer weitergegeben wurden. Sei es beim Lohn oder bei neuen Arbeitsmodellen. Dann gibt es die «sharing economy», das ist jetzt gerade der hippe Begriff. Da sehen Wissenschaftler wie Rifkin eine neue Form des Wirtschaftens aufkommen, die den Kapitalismus, wie wir ihn kennen, ihrer Meinung nach ablöst.

Ein Beispiel?

Das sind Dinge wie Uber, aber auch solidarischere Varianten, wie z.B. Pumpipumpe in der Schweiz. Also der Versuch, dass Leute im Alltag ihre Gebrauchsgegenstände teilen. Das ist eine andere Form des Konsums, die nachhaltiger wäre, und mit dem sozialen Gewinn, dass daraus sozialer Zusammenhalt entstehen kann. Derselbe Diskurs wird aber auch von Airbnb und Uber benutzt. Zum Teil auch zu Recht. Man kann ja sagen, dass es grundsätzlich ökologischer ist, wenn jemand seine Wohnung vermietet, als wenn sie leer steht. Es kommt bei diesen solidarischen Formen bei näherer Betrachtung aber zu einer Verschmutzung oder einer ständigen gegenseitigen Durchdringung marktorientierter und alternativer Logiken. Da zeigt sich eben auch der besondere Charakter des Kapitalismus, dass er sich ständig wandelt und anpasst. Ich denke deshalb nicht, dass es Sinn macht, streng zwischen kapitalistischem Markt und alternativen Formen des Wirtschaftens zu unterscheiden.

Die Krise der Arbeit ist also nicht zwingend eine Krise des Kapitalismus?

Nein. Es gibt Länder mit Krisen, wo Arbeit schon längst angepasst worden ist. Wo man Menschen als eine Art Selbstunternehmer anspricht. Auch mit der Zumutung, dass man ständig an sich arbeiten und sich verbessern muss. Das sind alles Figuren und Vorstellungen, die sich von dem abheben, was vorher dominant war. Die von den Menschen auch angenommen werden und in der Wirtschaft zum Tragen kommen. Arbeit wurde in der Krise neu erfunden, würde ich sagen.

In Ihrer Forschung spielt Arbeitsmigration eine gros- se Rolle. Eröffnet die Migration von Arbeit auch positive Möglichkeiten oder ist sie für die Betroffenen nur belastend?

Kommt drauf an, was man anschaut. Es gibt ja die Migration sowohl in den sogenannten hochqualifizierten Bereichen als auch im Niedriglohnsektor. Was es den Menschen bringt, ist dann Ansichtssache. Vielen Menschen in den westlichen Ländern wird ja durch die gering entlöhnte Arbeit, die Migranten und Migrantinnen leisten, auch geholfen, ihren Lebensstandard zu halten.

Also eine Lohnschere, die sich da entwickelt, die vor allem den Eliten in die Arme spielt?

Nicht nur Eliten. In der Schweiz zum Beispiel haben mittelständische Familien ja oft nicht die finanziellen Möglichkeiten, sich Pflegearbeit im Haus zu leisten. Da gibt es Dienstleister, die günstige Pflegearbeit aus dem Osten vermitteln. Das wird oft als Win-Win-Situation dargestellt. Wenn man das aber mittel- und langfristig anschaut, ist das schon problematisch.

Inwiefern?

Wenn ich jetzt jemanden für Pflegearbeit bei mir anstelle und die Frage im Raum steht, ob anmelden oder schwarz arbeiten, dann ist die Antwort der Betroffenen meist Letzteres. Weil dadurch natürlich viel mehr Geld für die Leute bleibt. Das kann aber für beide Seiten, z.B. bezüglich Versicherung, nicht die Lösung sein. Kommt dazu, dass der Lohn für polnische oder ungarische Verhältnisse sehr hoch sein mag. Wenn man aber beachtet, wie viele Stunden die Leute präsent sein müssen, sieht es mit Blick auf die Stundenlöhne ganz anders aus.

Wer ist da für Sie, um zum 1. Mai zurückzukommen, der Player, der diese Dinge in den Blick nehmen kann?

Da wären Gewerkschaften natürlich hilfreich. Die sind da aber nicht immer erfolgreich und können es auch gar nicht sein. Aber da muss man vorsichtig sein. Die Lösung ist nicht so einfach. Es ist ein Zusammenspiel zwischen staatlicher Regulierung, Arbeitnehmerverbänden und der generellen Frage, wie man mit dem Pflegerisiko umgeht, um beim Beispiel zu bleiben.

Jetzt haben wir viel von Dienstleistungen gesprochen. Was ist denn im industriellen Sektor passiert?

Diese Arbeiten sind nicht einfach verschwunden, sondern werden irgendwo im globalen Süden geleistet und von grossen Firmen im Griff gehalten. Das bringt natürlich den Leuten dort auch Einkommen und Arbeit, Stabilität, die sie vorher nicht hatten. Man könnte nun einen Entwicklungsprozess erwarten. Der funktioniert aber nicht immer so, wie man sich das in der klassischen Ökonomie erhofft. Diese Themen sind gerade in unserer Forschung auch immer wichtiger geworden. Dass es da eben sehr schwierig geworden ist, Standards durchzusetzen und Regulierungen zu fordern.

Es entsteht dabei ja das Bild, dass der Westen jetzt einfach die besitzende Elite ist und die klassische Fabrikarbeit im globalen Süden geleistet wird. Ist das eine Vorstellung, die aufgeht?

Nicht so ganz. Die Unterschiede innerhalb der Länder sind teilweise grösser geworden als die zwischen ihnen. Die Eliten in, beispielsweise, Mexiko leben sicher mindestens so gut wie wir. Aber auch südliche Firmen sind stärker geworden. Wobei man ja in der Forschung richtigerweise von der territorialen Betrachtung weggeht.

Sprechen wir noch etwas von Ihrer Arbeit. Sie sind Deutscher, der in die Schweiz arbeiten gekommen ist. Hat das mit den besseren Arbeitsbedingungen zu tun?

Generell ist das sicher ein Punkt. Es ist aber so, dass man sich in meinem spezialisierten Gebiet nicht auf ein Land beschränken kann. Für mich hätten da auch die USA oder Grossbritannien eine Rolle spielen können.

Solche Tendenzen, die Sie weltweit, etwa bezüglich Migration oder Strukturwandel, beobachten: Sieht man auch an der Uni?

Das Lustige an einem Unijob ist ja – wenn man ihn ernst nimmt – dass man immer so arbeitet. Also zur Selbstoptimierung gezwungen ist. Da würde ich in der Schweiz keinen Unterschied sehen. Aber global ist der Markt sicher härter geworden. Dass man gewisse Erwartungen erfülln muss, Papers publizieren, Drittmittel einwerben. Aber es gibt sicher Länder, wo das brutaler gemacht wird. So, wie das hier stattfindet, finde ich das völlig OK. Wo es prekär wird, ist dann eher auf anderen Ebenen der universitären Karriere.

Also im Mittelbau. Doktorierende beklagen ja oft die hohe Arbeitsbelastung und die Abhängigkeit von ihren Profs. Ist unser System noch patriarchal oder bereits komplett kommodifiziert?

Durchökonomisiert war es schon immer. Das liegt auch an den Erwartungen an sich selber. Das System ist aber hier noch überlagert von dieser patriarchalen Struktur. Da sehe ich aber schon auch Veränderung oder den Willen zur Veränderung. Z.B. mit attraktiveren Stellen wie Tenure-Track-Assistenzprofessuren. Die Uni Zürich nimmt da schon den richtigen Weg, denke ich.

Zum Schluss: Was war Ihr Traumberuf als Kind?

Lange Zeit vielleicht Fussballer. Später wollte ich Lehrer werden. Und bin in die Forschung dann eher etwas zufällig hineingerutscht. So eine akademische Karriere ist extrem schwierig zu planen. Das merken ja auch die Doktorierenden. Die Pyramide ist steil und der Markt gerade in der Schweiz nicht gross.

Prof. Dr. Christian Berndt ist seit 2010 Professor für Wirtschaftsgeografie an der Uni Zürich. Zuvor hatte er einen Lehrstuhl an der Uni Frankfurt inne. Er habilitierte an der Universität Eichstätt-Ingolstadt zu den Globalisierungswirklichkeiten an der mexikanischen Grenzen und forscht unter anderem zu Arbeitsmigration und Care-Arbeit.