Der Jamarico beim Helvetiaplatz. Benjamin Erdmann

Zürich auf Vinyl

Von wegen Revival der Schallplatte: Viele Plattenläden machten in den letzten Jahren dicht. Ganz düster sieht es aber nicht aus.

26. März 2015

Zürich war Hauptstadt. Allein im Dreieck Limmatplatz – Stauffacher – Kalkbreite machte sich über ein Dutzend Plattenläden breit. Das ist bemerkenswert. Nicht einmal in Hamburg oder London fand man auf einem Quadratkilometer eine solche Auswahl.

Seit einiger Zeit ändert sich dies – trotz des proklamierten, angeblichen Revivals des Vinyls. Es ist ja schon seit Jahren «ganz gross im Kommen», hört man in der selbsternannten Szene wie auch im Feuilleton.

Viele lokale Bands pressen tatsächlich wieder auf 12 oder 7 Inch. Die Verkaufszahlen in der Schweiz stiegen in den letzten Jahren erheblich an. Trotzdem sind gerade einmal 1,5 Prozent der weltweit verkauften Tonträger Schallplatten, sie bleiben Nischenprodukt. Und wenn, kauft man auf Amazon, wo es auch Raritäten und Erstpressungen gibt, direkt bei den Labels oder an Konzerten. Das Lädelisterben in Zürich liess denn auch die Plattengeschäfte nicht aus: 2009 schloss der «Rock On», weither legendär für sein grosses Angebot und den seit 30 Jahren engagierten Ruedi Fehlmann – man könnte ihn ein Original nennen. 2013 traf es den «Crazy Beat», 2014 den «Spooky Sound». Ein Züritipp-Artikel bezeichnete 2011 die Stadt noch als «Scheibe» – mittlerweile ist sie eine Single geworden: Sie bietet weniger, die Qualität ist aber noch immer neuwertig.

Denn es gibt in Zürich noch die Orte, an denen sich Freaks und Sammelsüchtige eindecken. Kleine, überladene Geschäfte, in denen es nach Keller und Karton riecht. Chaos mit System, geordnet nach Genre oder Alphabet. Den angegrauten Verkäufern sieht man an, dass sie schon seit Jahren hinter dem Tresen hocken, neu Reingekommenes sortieren und Kataloge durchsuchen. Ohne sie ist man meist aufgeschmissen. Das sind Institutionen, wie vor der Onlinesuche die Bibliothekare. «New Clear Days von den Vapors? Nein, habe ich gerade nicht vorrätig. Kann ich bestellen. Aber hier, das und das tönt ähnlich.» Dann ist man für die nächsten Stunden eingedeckt und hört sich die empfohlenen Platten im Laden an. Überhaupt: Nostalgie. Natürlich spielt die eine Rolle, egal, ob beim Jugendlichen, der eine Scheibe für den geerbten Plattenspieler kauft, oder beim Alt-Punk. Kritik am modernen Leben, Sehnsucht nach echter Erfahrung oder – wie es alternde Musikjournalisten nennen würden – wahren Gefühlen. Verlangen nach dem Haptischen und menschlicher Beratung. Ja, Plattenläden sind aus der Zeit gefallen.

Experten und Autoritäten

Auch das «Katalog Records Warehouse» an der Weinbergstrasse unterhalb der ETH ist eigentlich unzeitgemäss. Der Raum ist für die Verhältnisse riesig und einigermassen beleuchtet. Obwohl man, wie überall, für ein Album 20 bis 30 Franken bezahlt (für Originalpressungen sehr, sehr schnell viel mehr), finden sich immer ein, zwei Gesichter ein. Durchaus auch Teenager, deren Sackgeld schlechter investiert werden könnte. Das liegt auch an den Verkäufern, die äusserst nett sind. Denn, das muss gesagt sein, manche in Zürich sind arrogante Kerle.

«Diese Typen haben ein enormes Expertenwissen. Die beschäftigen sich halt ihr ganzes Leben mit Musik», sagt David. Der Zürcher kauft seit 20 Jahren Platten, legt jede Woche auf, im Gonzo oder Helsinki. Seine Sammlung umfasst mehrere Regalwände. Als er mit 17 das erste Mal den «16 Tons» betrat, schnauzte ihn der Verkäufer an: Er solle gefälligst die Finger von den Platten lassen, wenn er nicht wisse, wie sie aus den Hüllen genommen werden. Viele, so David, würden sich halt als Autoritäten sehen.

In besagtem Laden hat er schon rund 200 Platten gekauft, also etwa 6000 Franken liegengelassen. Es wäre das Dreifache gewesen, wenn der Verkäufer über die Jahre nur ein wenig freundlicher geworden wäre. «Aber diese Käuze machen auch Eindruck und gehören irgendwie dazu», zum Gesamterlebnis sozusagen.

Man kann in Zürich übrigens ruhig auf Brockis ausweichen; besonders im Brocki-Land in Wiedikon findet man mit etwas Glück eine Trouvaille. Auch der Kanzleiflohmarkt loht sich. Der alte Engländer, der dort seinen Stand hat, führt ein gutes Sortiment an Populärmusik.

Kein «No Future»

Die verbliebenen Plattenläden sind sehr spezialisiert. Wer Rap mag, geht in den «Six Pack Records», klein mit riesiger Auswahl, bei der Kalkbreite. Allerlei Günstiges bekommt man im «Blutt Records», sympathisch schäbig, am Limmatplatz. Punks sollten samstags in den «Vinyl Pirate» im Keller des Comicladens Analph beim Stauffacher. Es hat eben auch Vorteile, in einer kleinen Stadt zu leben; um zu überleben, müssen sich die Läden festlegen, Spezialitäten anbieten. Zugleich ist Zürich gross genug, um Musikaffine von weitherum, auch von jenseits der Kantonsgrenze, anzuziehen.

Die Zukunft indes scheint trotz aller Schliessungen ganz okay. Letzten Herbst eröffnete der «OOR Records» an der Anwandstrasse. Die Genossenschaft setzt auf «strictly Vinyl», lässt gängige Genrebezeichnungen beiseite und bietet etwa «Sounds of Silence, In the Fields & Mics to the Ground» oder «In Your Face Hystérias». Der Laden ist sehr aufgeräumt und hell, die Verkäufer durchwegs junge Menschen. Alles wirkt sehr konzeptualisiert, reduziert mit weissen Wänden, verkauft wird zeitgenössische Musik. Wie viele Plattenläden erweitert auch der OOR sein Sortiment, bietet Bücher und Poster an. Die Wenigsten verlassen sich allein aufs Vinyl; Secondhand-Kleider, Vintage-Möbel und allerlei Kram werden angeboten, nur mit den Platten überlebt es sich schlecht.

Und auch der «Jamarico» am Helvetia­platz, wo man Neuerscheinungen aller Genres bekommt, bleibt bestehen, obwohl der angeschlossene Kleiderladen letztens dichtmachte. Woody Jakob, der neben Fehlmann zu den Zürcher Pionieren in Sachen Vinyl gehört und seit über 30 Jahren Platten verkauft, wird ihn weiterführen. Übrigens ist der «Jamarico» allen Neulingen empfohlen: Jakob ist äus­serst zuvorkommend und lächelt einen auch mal an.

Sieh dir die Karte mit den Plattenläden in Zürich an!