Im Namen der Aufklärung: Im Minimum ein Gummi drum. Michael Kuratli

Lasst uns über XXX sprechen

Die Medizinstudierenden von «Achtung Liebe» klären Jugendliche auf.

26. März 2015

Erwartungsvolles Getuschel erfüllt den Raum. Die Sechstklässler sitzen im Kreis und schauen zu den zwei Studierenden. Freddi, Medizinstudent an der Uni Zürich, reicht eine WC-Rolle herum. Die Schülerinnen und Schüler werden angewiesen, so viele Blätter abzureissen, wie sie es auf dem Klo tun würden. Nachdem die Rolle wieder bei Freddi ist, verrät er den Clou der Übung: Pro Blatt muss man etwas über sich erzählen.

«Dieser Einstieg hilft uns, die Alpha-Männchen einer Klasse zu erkennen und sie gleich etwas zu mässigen.» Das sei wichtig, um mit 20 Pubertierenden arbeiten zu können. Freddi und Laura sind an diesem Morgen das Aufklärer-Duo. Tricks wie das WC-Rollen-Spiel lernen sie in einem mehrtägigen Workshop von Sexualpädagogen. Genau das macht das Projekt aus: Die Aufklärer waren vor Kurzem selbst noch Jugendliche.

Bei jedem Einsatz sind je ein Student und eine Studentin dabei. Sie sind keine strengen Autoritätspersonen, sondern unverkrampfte, aber kompetente Spezialisten, mit denen sich die Schülerinnen und Schüler identifizieren können. «Achtung Liebe» wurde von Medizinstudierenden auf die Beine gestellt. Inzwischen machen auch Engagierte aus den Studiengängen Biologie und Psychologie mit.

Samenblase wie ein McDrive

Der Versuch, die Kinder für Aufklärung zu sensibilisieren, scheint zu funktionieren. «Schreibt Synonyme für Penis an die Wandtafel. Jungs gegen Mädchen. Die mit den meisten Wörtern gewinnen!», fordert Freddi die Klasse auf. Sofort reissen sich die Kinder um die Kreiden. Gegenseitig rufen sie sich die ausgefallensten Wörter zu. «Spermawerfer» wird zum besten Wort erkoren, das den ganzen Morgen über anstelle von Penis verwendet werden soll. Als Nächstes ist Anatomie dran. Die Buben malen eine Frau. Die Mädchen einen Mann. Geschmückt mit Haaren an allen möglichen und unmöglichen Stellen, unzähligen Tattoos und Sixpack, sehen die Bilder aus, als würden sich die Kinder amüsieren.

Später erklärt Freddi einer Gruppe, was eine Samenblase ist: «Sie ist wie ein McDrive. Die Spermien haben eine lange und anstrengende Wanderung vor sich. Dafür brauchen sie Verpflegung.» Zehn Minuten später muss diese Gruppe der Klasse den Begriff erklären. Die Primarschüler lösen die Aufgabe souverän. Die spielerischen Übungen von «Achtung Liebe» kommen gut an.

Porno-Vokabular

Der Stoff, den die Aufklärer im Workshop lernen, bildet aber nur die Grundlage für die Arbeit von «Achtung Liebe». «Jede Klasse ist anders. Jede hat ihre ganz eigene Dynamik. Das macht unsere Arbeit mitunter so spannend», erzählt Andres vom «Achtung Liebe»-Vorstand. In einer Primarschule müsse man anders vorgehen als in einem Gymnasium. In einer Sek A anders als in einer Sek C. Im heutigen Fall, stellt Freddi in der Pause fest, fiel bei der Synonym-Übung zu Beginn der Stunde auf, dass das Vokabular der Kinder durch Pornos beeinflusst ist. Laura und er beschliessen, die Pornographie im zweiten Teil zu thematisieren, denn der individuelle Umgang mit Klassen sei wichtig, wie sie sagen. Nach der Pause schreibt Laura «Sexualität» an die Wandtafel und sammelt Stichworte. Sie schaut in die Runde und schreibt das Wort «Homo» vorne hin. «Treffen die Stichworte immer noch zu?» Die Klasse beginnt zu murmeln. «Pervers!» und «wie Tiere!», flüstern die Zwölfjährigen. Eine solche Reaktion, meint Freddi, sei noch ziemlich tolerant. Er erzählt von einer Klasse, bei der er einmal unterrichtete. Die Lehrerin informierte vor dem Einsatz über auffällige Homophobie. Das Team von «Achtung Liebe» beschloss also, einen Fokus auf dieses Thema zu legen. «Ohne Erfolg. Es riefen alle nur ‹Die muss man abstechen!› und ‹Wenn wir einen von denen erwischen, zeigen wir’s ihm!›»

Auklärung verdirbt nicht

Oft seien die Kinder nicht so unschuldig, wie ihre Eltern meinen, berichten die Medizinstudierenden. Auch wenn manche Mütter und Väter das Gefühl hätten, frühe Aufklärung verderbe ihre Kinder, sei das Gegenteil der Fall. «Wir bringen ihnen ja nicht nur bei, wie Babys gemacht werden. Wir vermitteln allgemein Wissen über Sexualität», so Laura.

Dadurch könne mehr Toleranz geschaffen werden – beispielsweise was Homophobie betrifft. Zurück im Unterricht. Auf die Frage, ob jemand schon einen Porno geschaut hat, erzählt eine Primarschülerin: «Halt im Internet, wenn man Filme schauen will, dann kommen immer so Werbungen. Aber ich mache das ja nicht absichtlich.»

Nacktfotos

«Achtung Liebe» besucht keine Klassen unter der 5. Primarstufe. Dennoch gibt es Eltern, die glauben, ihr Kind vor den Aufklärern schützen zu müssen. Ein Lehrer erzählt, dass eine Familie für ihre zwei Söhne deren Jokertag eingelöst habe. Er vermutet religiöse Gründe.

Die Medizinstudierenden berichten auch, dass an vielen Schulen, vor allem auf der Sekundarstufe, ein riesiger Druck herrsche, sein erstes Mal zu haben. «Es werden Pornos herumgeschickt, auch harte. Von Nacktfotos ganz zu schweigen. Die Schülerinnen und Schüler sind sich nicht mal bewusst, dass sie eine Straftat begehen», sagt Freddi. Der Weg zu Toleranz und einem offenen Umgang scheint auch beim Sex: Wissen statt Glauben. ◊