Michael Kuratli

«Wir brauchen dich als Utopie»

Der letzte Lizlümmel — Der letzte Lizlümmel gedenkt seines geliebten Systems.

26. März 2015

Deadline war für Dich ein Fremdwort. Nun bist Du tot. Dein Tod kam plötzlich und brutal. Weil ein paar schlecht vorbereitete Diplomaten sich in einer norditalienischen Stadt überrumpeln liessen, musstest Du sterben. Sie unterschrieben die Bologna-Deklaration, ohne zu wissen, was für ein Monster sie entfesselten. Unaufhaltsam frass es sich durch die Institute unserer Universität. Die Ökonomen warfen sich ihm mit Freudenschreien in den Rachen. Sie hatten das neoliberale Ungetüm schliesslich erschaffen. Die Juristen fügten sich schnell. Gesetz ist Gesetz. Die Geisteswissenschaftler taten, was sie am besten können: prokrastinieren. Sie schoben Dein Ende zehn Jahre hinaus. Und sie hatten einen Plan: Präsenzpflicht um 8 Uhr morgens (sic!) und ein Modulbuchungssystem, bei dem nur klickfertige Videogamer zum Ziel kommen, sollten die Studierenden zum Widerstand anstacheln. Der Plan hätte fast funktioniert. Studis besetzten die Universität, um Dich zu retten. Doch der Protest perlte an Rektor Fischer und Bildungsdirektorin Aeppli ab wie Regen von der Goretex-Jacke. Wären doch nur Mörgelis Leichen im Keller früher ans Tageslicht gekommen. Vielleicht lebtest Du noch.

Heute vermissen wir vor allem Deine unaufdringliche Art. Du hast nicht notiert, wie oft wir fehlten. Du hast nie gefragt, auch wenn man uns ansah, dass wir Dir untreu waren. Du warst so unaufdringlich, dass es manchmal wehtat. Du hättest doch auch mal nachfragen können, ob wir nicht wieder mal vorbeikommen wollten, wenn wir uns fünf Semester nicht gemeldet hatten. Doch das hätte Deinen Prinzipien widersprochen. Denn Du liebtest die Freiheit. Du hattest uns nie eingeengt. Wir nutzten die Freiheit. Gingen vor dem Frühstück in eine Volkswirtschaftsvorlesung, lernten von 10 bis 12 Latein, um uns am Nachmittag mit Kunstgeschichte zu beschäftigen. Am Abend Biologie. Du fragtest nicht nach dem Sinn. «Employability» war für Dich ein Fremdwort. Du produziertest wahre Intellektuelle. Ich bin sicher, Du und Humboldt, ihr liegt euch nun in den Armen.

Nicht alle konnten mit der Freiheit umgehen. Sie entfernten sich zu weit von Dir und kamen nie mehr zurück. Für Andere warst Du ein Karrierevehikel, sie absolvierten parallel zum ersten Proseminar schon Forschungskurse. Für wieder Andere warst Du vor allem eine Lebenslüge. Die schönste Lebenslüge der Welt. Denn dank Dir konnten wir ausbrechen aus allen Zwängen. Wir arbeiteten 20 Jahre als Velokurierin oder Serviceangestellter, und wenn jemand fragte, warum wir nicht Karriere machten, war die Antwort schnell parat. «Ich mach das nur nebenbei. Ich studiere hauptsächlich.» Das Liz war die Generalausrede für Aussteigerinnen und Nonkonformisten. Andere gründeten früh eine Familie. Für Männer, die sich für die Familie entschieden, bot das Liz gegenüber den konservativen Nachbarn die perfekte Tarnung. «Hausmann? I wo! Ich bin Ethnologe!»

Deine beste Zeit hattest Du, als Du schon im Sterben lagst. Je weniger Studierende die Hand aufhielten, wenn gefragt wurde «Wer studiert noch im Liz?», desto besser wurde Dein Ruf. Plötzlich schwärmten die Profs von Dir. Denn alles Schlechte, auch die eigenen Unzulänglichkeiten, wurden nun Deiner Nachfolgerin angelastest. Und Deine Vorzüge wurden in leuchtenden Farben gemalt. Wenn die Erstsemestrigen das «Früher war alles besser»-Gerede der Profs hörten, konnten sie wohl nicht anders, als sich Tagträumen hinzugeben – von einer Zeit, in der ungezwungenes Lernen ohne Präsenzlisten möglich war.

In Vergessenheit gerieten dabei Deine Macken. Zu spüren bekam sie, wer es wagte, sich für den Abschluss anzumelden. Die Prozedur von Unterschriften einsammeln (Lebt der Prof überhaupt noch?) über Institutsstempel einholen (nur montags zwischen 10 Uhr und 11 Uhr) bis zur Immatrikulationsbestätigung («2 Franken bitte») muss Kafka persönlich ersonnen haben. Die dreitägige Prüfung liess Multiple-Choice plötzlich in ganz anderem Licht erscheinen. Und die mündlichen Prüfungen fühlten sich an, als würde man bei Dieter Bohlen vorsingen – auf Mittellatein («Leider Nein»).

Aber über Deine Schwächen wollen wir heute nicht sprechen. Denn heute brauchen wir Dich als Utopie: Lizenziat, das ist Akademie für Erwachsene. Bologna ist Kindergarten. Du bleibst in unseren Köpfen als Freiheitsstatue der Wissenschaft, die uns daran erinnert, dass es auch anders sein könnte. Du lebst weiter in den Träumen der Studierenden, die eine Bildung wollen, die nicht nur Ausbildung ist, die aus Leidenschaft studieren und nicht aus Leistungsdruck und die sich mit Kaffeepausen belohnen und nicht mit Kreditpunkten. Und wenn sie dereinst die Universität von der Punktesammelbürokratie befreien sollten, wäre der Name des neuen emanzipierten Studiengangs schnell parat: Er wäre «Lizenziat».

Die Abdankungsfeier findet am 8. Mai 2015 im engsten

Familienkreis in der Grossmünsterkirche statt.