Screenshot: JokahTululu live auf YouNow am 18. März um 17:23 Uhr.

Du! Jetzt! Live!

Auf der Plattform YouNow blickt man Teenagern direkt ins Schlafzimmer. Und die finden das ganz normal.

26. März 2015

YouTube und Facebook sind Schnee von gestern. Der neue Trend heisst «Live Internet». Damit hat der Onlineexhibitionismus der modernen Gesellschaft ein vollkommen neues Level erreicht. Seit der Gründung der Plattform «YouNow» 2011 ist es Nutzern möglich, in Echtzeit Videos in die digitale Welt hinauszusenden und gleichzeitig mit den Zuschauern via Chatfunktion zu interagieren. Die Plattform entstand ursprünglich, um wenig bekannten Künstlern, vor allem Musikern, die Chance zu geben, online ihre Werke einer grösseren Fangemeinde zugänglich zu machen.

Wie es im Internet so oft der Fall ist, entwickelten sich die Dinge aber anders als geplant. Seit es 2014 jedem Nutzer möglich ist, sein Video live zu streamen, haben vor allem Jugendliche YouNow in Beschlag genommen. Seither wird die Website kontrovers diskutiert. Besonders der Jugendschutz und die Privatsphäre seien in Gefahr.

Nicht immer unbedenklich

Abgesehen von den grundlegenden rechtlichen Fragen ist es für Kritiker fraglich, was einen Nutzer dazu bewegt, nicht nur seinem engeren Freundeskreis, sondern einem potenziell unbegrenzten Publikum von persönlichen Erlebnissen und Gedanken zu erzählen und Dinge zu tun, die man sonst für sich allein ausprobieren würde. So kann man den vierzehnjährigen Jonas dabei beobachten, wie er einen Löffel Zimt verschluckt, oder der sechzehnjährigen Simona dabei zuschauen, wie sie sich live vor der Kamera schminkt und dabei Tipps erteilt.

Warum tun Jugendliche das? «Für viele kann der Schritt in die digitale Welt eine Möglichkeit sein, verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit auszuleben», erklärt Matthias Hofer, Medienpsychologe am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Uni Zürich. «Gerade bei Jugendlichen ist das Ausprobieren von verschiedenen Persönlichkeiten – online oder offline – ein ganz normaler Prozess. Problematisch wird es dann, wenn online und vor laufender Kamera Dinge getan werden, die verboten sind und rechtliche oder persönliche Konsequenzen nach sich ziehen.» Dies wäre vor allem bei Nacktheit oder dem Konsum von Drogen vor laufender Kamera der Fall.

Keine Kinderpornografie

Für Adi Sideman, den Gründer von YouNow, ist die Entwicklung, die seine Plattform durchlebt, nicht bedenklich, wie er in verschiedenen Interviews betont hat. Von potentieller Kinderpornografie auf seiner Seite möchte er nichts wissen, schliesslich gebe es strenge Sicherheitsmassnahmen.

Doch genau da ist der Knackpunkt: Im Livestream können Sicherheitsmassnahmen erst im Nachhinein greifen. Was live ausgestrahlt wird, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, selbst wenn ein Userprofil als Folge von Missbrauch gesperrt wird.

Dass das Internet einen immer

grösseren Stellenwert im Alltag einnimmt, ist keine neue Erkenntnis. Traditionelle Medien wie das Fernsehen oder Zeitungen kämpfen schon lange um Einschaltquoten und Leserzahlen, während Plattformen wie YouTube oder Twitter explosionsartig wachsen. So hat die Videoplattform YouTube über eine Milliarde Nutzer. Täglich werden dort mehrere hundert Millionen Stunden Videomaterial angesehen.

YouTube als Business

Der bekannteste Youtuber, der sich selbst PewDiePie nennt, hat eine Gesamtzahl von über 35 Millionen Abonnenten. Von solchen Einschaltquoten können Fernsehanbieter nur träumen. Hinzu kommt, dass sich daraus heutzutage tatsächlich ein Businessmodell ableiten lässt.

Je mehr Klicks ein YouTube-Video erzielt, umso mehr Geld verdient ein YouTube-Nutzer damit. Durchschnittlich benötigt man 1000 Views, um zwei US-Dollar zu verdienen. Betrachtet man die Popularität von Usern wie PewDiePie, scheint es nicht mehr verwunderlich, dass Kinder heutzutage die Frage nach ihrem Berufswunsch immer häufiger mit dem Wort «Youtuber» beantworten.

Wir im Mittelpunkt

Als George Orwell seinen Gesellschaftsroman «1984» schrieb, porträtierte er die Kamera, die alles aufnimmt und sich nicht ausschalten lässt, als die Wurzel alles Bösen. Dass unsere Gesellschaft das Objektiv der Kamera einmal bewusst umdrehen und sich selbst zum Mittelpunkt der Aufnahme machen würde, hätte Orwell sich wohl niemals träumen lassen. Dennoch scheint die Selbstinszenierung im Internet immer selbstverständlicher zu werden. Besonders verlockend ist dies für Minderjährige.

Auch Matthias Hofer ist der Meinung, dass im Internet gerade für Jugendliche viele Gefahren lauern. Er sagt dazu: «Digital Natives sind versiert, was die technischen Details der Internetnutzung angeht. Rechtliche Fragen hingegen setzen ein Wissen voraus, das viele Jugendliche noch nicht haben. Hier sollten vor allem auch die Anbieter in die Pflicht genommen werden.» Allerdings betont er auch, dass das Internet durchaus positive Auswirkungen haben kann. So könnten gerade für marginalisierte oder stigmatisierte Gruppen Online-Supportgroups äusserst hilfreich sein. Man traue sich online eher, seine Probleme offen anzusprechen, und komme an Menschen heran, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

Mit Verstand

Dass unsere Gesellschaft durch die Nutzung sozialer Netzwerke insgesamt egozentrischer geworden ist, findet Hofer nicht. «Wir nutzen das Internet und laden Bilder von uns selbst in soziale Netzwerke, weil es die Möglichkeit dazu gibt. Das sagt aber noch lange nichts über unsere Gesellschaft als Ganzes aus.»

Wir können also beruhigt weiterhin Selfies auf Facebook laden oder Videos auf YouTube stellen – solange mit der Kamera auch der Verstand eingeschaltet wird.