Dora (Victoria Schulz) und Peter (Lars Eidinger) führen eine merkwürdige Beziehung. Fimcoopi

Kein Film für den bunten Abend

Stina Werenfels‘ «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» ist sehenswert. Und verlangt den Zuschauern einiges ab.

27. Februar 2015

Vor dem 18. Geburtstag der geistig behinderten Dora beschliesst ihre Mutter, die ruhigstellenden Medikamente ihrer Tochter abzusetzen. Damit wirft sie Dora in eine Welt voller neuer und faszinierender Erfahrungen. Die neugierige Dora verliebt sich in den blauäugigen Peter. Sie folgt ihm auf eine U-Bahn-Toilette. Dort wird sie von Peter vergewaltigt.

«Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» ist kein Film für den bunten Abend. Die Adaption von Lukas Bärfuss’ erfolgreichem Theaterstück «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» ist alles andere als seichte Wohlfühlunterhaltung. Die Zuschauer haben mit ihm keinen Spass. Das ist allerdings keine Schwäche. Im Gegenteil: Regisseurin Stina Werenfels hat mit «Dora» einen sehenswerte deutsch-schweizerische Koproduktion auf die Leinwand gebracht. Hauptdarstellerin Viktoria Schulz spielt fantastisch. Es sind die schonungslosen Szenen, die das Zuschauen teilweise zu einer Tortur machen.

Dora ist anders

Nach der Vergewaltigung führen Dora und Peter eine merkwürdige Liebesbeziehung, die Doras Eltern natürlich fassungslos zu beenden suchen. Jedoch: Dora ist vor dem Gesetz mündig und kann ihr Leben selbst bestimmen. Schliesslich wird sie schwanger. Es zeigt sich, dass sie nicht in der Lage ist, für ein Kind zu sorgen. Die Eltern fordern die Abtreibung.

Wer Bärfuss’ Original kennt, weiss, was den Reiz dieses Theaterstücks ausmacht: der Interpretationsspielraum. Der Theatertext ist roh, ein Baugerüst, mit dem der Inszenierende nach Belieben arbeiten kann. Das öffnet die Tür zu vielen verschiedenen Themenfeldern, seien es Tabletten, freier Willen, Mündigkeit oder Erziehung. Zudem lässt Bärfuss offen, wegen welcher Behinderung Dora mit Medikamenten ruhig gestellt wurde. In Werenfels Film hingegen wird Doras geistige Behinderung klar benannt. In einer Szene fragt Dora ihre Mutter etwa, ob sie behindert ist. Auf die Antwort, dass sie schlicht «anders» sei, bricht sie in Tränen aus und schreit, dass sie nicht behindert sein will.

Im Film liegt der Fokus klar auf der tabuisierten Frage, wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Sexualität ausleben dürfen. Das ist vor allem in der Schweiz ein heikles und kontrovers diskutiertes Thema, wo sich die Rechtslage seit dem Erscheinen des Theaterstücks vor 10 Jahren geändert hat. Denn erst am 17. Dezember 2004 wurde das «Bundesgesetz über Voraussetzungen und Verfahren bei Sterilisationen» verabschiedet, in dem die Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung ohne deren Zustimmung verboten wurde. Konnten die Eltern im Stück ihr Kind zur Abtreibung zwingen und sie später noch sterilisieren lassen, kann die Dora im Film frei entscheiden, ob sie ein Kind haben möchte oder nicht.

Schwer zu verdauen

Ebenso klar ist auch die Darstellung von Doras sexuellem Leben. Und ihrem Leidensweg. Das beginnt schon mit der Vergewaltigungsszene (die im Übrigen in der NZZ unangebracht als «unsanfte Entjungferung» bezeichnet wird). Die Folge: Viel Fleischschau, einige sehr unangenehme Nahaufnahmen, in denen man am liebsten die Augen schliessen würde. Nach der 90-minütigen Achterbahnfahrt hat der Kinogänger viel gesehen, was es erstmal zu verdauen gibt. Natürlich gibt es neben der Tatsache, dass dem ursprünglichen Stoff durch die Entscheidung, Doras Behinderung explizit zu benennen und zu thematisieren, einiges an Interpretationsspielraum genommen wurde, auch einige Kritikpunkte. Etwa dass der Film nach dem realistischen Einstieg überraschend mutlos endet. Oder dass die im Titel versprochen sexuellen Neurosen unserer Eltern(generation) erstaunlich wenig behandelt werden. Von vernuschelten Dialogen zwischen den deutschen Schauspielern ganz zu schweigen.

Doch darüber trösten die guten schauspielerische Leistungen von Viktoria Schulz und dem Tatortschurken Lars Eidinger hinweg. Zudem kommt die ETH Zürich zu einem kleinen Gastauftritt. Fazit: Ein guter Schweizer Film mit kleinen Schönheitsfehlern, über den man bei einem Bier nach dem Kino diskutieren sollte.

«Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern»

Regisseurin: Stina Werenfels

Laufzeit: 89 Minuten

Erscheinungsdatum: 2014 (aktuell in ausgewählten Schweizer Kinos; z.B. im Arthouse Alba)

Mit: Victoria Schulz, Lars Eidinger, Jenny Schily u.a.