Nora Gsell

Duell: Selfie

Bekanntheiten aus aller Welt und Zeit duellieren sich zu ausgelosten Themen.

23. Februar 2015

PRO: Sigmund Freud

Seit ich durch die Anzahl der bescheidenen psychoanalytischen Beobachtungen dem menschlichen Ich die schmerzlichste Kränkung der modernen Wissensgeschichte zufügte – es sei nicht Herr im eigenen Haus –, ist es dazu verdonnert, sich Selfie für Selfie darüber hinwegzutrösten. Dies ist ihm nicht zu vergönnen, steht es doch immerzu unter dem Druck der schwer zu befriedigenden Forderungen des Es und der unerbittlichen Ermahnungen des Über-Ich. Der Mensch ist nun einmal unablässig mit dem Sexuellen beschäftigt. Und da ihm in Zeiten der individualistischen Konsumkultur nur der Regress in den Narzissmus bleibt, versichert er sich seiner Liebe zu sich selbst mit einem raffinierten Selbstbild nach dem anderen. Die Psychoanalyse wertet nicht, und wenn für die Menschenskinder auf dem Weg zu ihrem Lebensglücke das Selfie unumgänglich ist, wollen wir das nicht verurteilen.

Ich als Ästhet war immer auch angenehm berührt, zu sehen, wie Narziss (etwa bei Caravaggio) sein Spiegelbild im Teich anhimmelt. Nicht anders versenkt sich die Selfieknipserin in ihr Selbstbildnis auf dem Mobiltelefon. Und wie der Selbstgenuss Narzissens von der ständigen Angst getrübt war, ein fallender Tannenzapfen könnte die Wasseroberfläche erschüttern, so muss auch der Selfist ständig mit einem leeren Akku rechnen. Mein nicht unkluger, aber mir etwas suspekter französischer Nachahmer Jacques Lacan hat im Übrigen erkannt, dass das Ich sich durch diese Spiegelung überhaupt erst konstituiert. Ein wenig gesunder Narzissmus sei also auch deshalb gebilligt.

Da ich meinerseits aber die Eigenliebe vor langer Zeit überwunden habe, wollen wir zum Schluss noch über Sie sprechen, verehrte Leserin: Kennen Sie meine psychoanalytischen Theorien? Wenn nicht, sollten Sie dieses Versäumnis nachholen, denn die Psychoanalyse gehört zu den grossen Errungenschaften der Wissenschaft, und die leise Stimme des Intellekts macht auch, wie Sie hiermit erfahren haben, vor dem Selfie nicht Halt. [tru]

CONTRA: Louis XVI

Es war eine warme Juninacht im Jahr 1791. Meine Familie und ich versuchten unser Leben zu retten. In einer Kutsche flohen wir vor dem Pöbel in Paris, unser Ziel war das Exil im Ausland. Doch unsere Flucht endete allzu früh in der kleinen Ortschaft Varennes, wo mich offenbar ein Postmeister anhand meines Konterfeis auf einer Münze erkannte. Hätte ich es unterlassen, dieses Selbstbildnis in meinen glücklicheren Tagen als absoluter Monarch in Umlauf zu bringen – nun, unser Entkommen wäre geglückt. Wenn ich nicht so eitel gewesen wäre, meinen Kopf auf eine Münze prägen zu lassen, hätte der Henker von Paris anderthalb Jahre später denselben nicht von meinem Körper getrennt und der jubelnden Menge auf dem Place de la Révolution präsentiert. Quel malheur!

Ich war nie ein grosser Freund von Selbstbildnissen. Abgesehen davon, dass mir grundsätzlich alles suspekt ist, was den Kopf ohne den Rumpf darstellt, erachte ich ein solches Verhalten für einen Ausdruck falscher Eitelkeit. Gekrönte Häupter geben sich diesem Fehlverhalten nur zu gerne hin. Man nehme etwa das Beispiel meines Ahnherrn Louis XIV., des Sonnenkönigs. L’état, c’est moi, soll er gesagt haben. Diese Geltungssucht! Wo bin ich da nur hineingeboren? Diese kopflose Ich-Bezogenheit brachte mich zu Fall! Mon Dieu! Lieber wäre ich Tischler oder Schmied geworden. Was wäre mir da erspart geblieben?

Obwohl, wie man mir berichtet, ist das Selbstbildnis in diesen Tagen nicht nur Sache der Fürsten, sondern auch des Volkes. Der Pöbel scheint hier den gepuderten Aristokraten, gegen die es einst so rüde aufbegehrte, in keiner Weise nachzustehen. Überall, so sagt man, fertigen die Menschen Portraits von ihren Köpfen an. Manche sogar mit langen Lanzen, um noch mehr von ihrer Umgebung darstellen zu können. Ich finde das befremdlich, benutzte man in meinen Tagen doch Lanzen, um damit ungeliebte Häupter durch die Strassen von Paris zu tragen. Man sieht also, was ich von der ganzen Angelegenheit halte: rien. [jol]