«Die Wissenschaft darf nicht schweigen»
Professor Sean Carroll vom Caltech in Kalifornien weilte für einen Vortrag an der Uni Zürich. Trotz engem Terminplan sprach er mit der ZS über die Rolle der Wissenschaft, Atheismus und Hollywood.
Innerhalb Ihres Forschungsgebiets der theoretischen Physik liegt Ihr Fokus auf Fragen nach dem Ursprung des Universums und der Natur der Zeit. Wie haben Sie persönlich gemerkt, dass Sie beruflich nach den Antworten dieser fundamentalsten Fragen suchen wollen?
Ich hatte tatsächlich viel Glück. Ich war sehr jung, zehn Jahre alt, als ich in die öffentliche Bibliothek ging, um Bücher über Physik, Kosmologie, den Urknall und Schwarze Löcher zu lesen. Ich dachte, damit möchte ich meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich wusste allerdings nicht, wie eine typische berufliche Laufbahn in der Physik aussieht. Dass es dort Professoren gibt und PhD-Studierende und so weiter. Ich war mir aber sicher: Es sollte theoretische Physik sein, mit dem Fokus auf Kosmologie. Und hier bin ich und mache es immer noch. Von den Fragen, die man sich in der theoretischen Physik stellt, war ich immer an deren grössten und abstraktesten Versionen interessiert. Diese sind sehr anspruchsvoll und der Fortschritt in ihnen geht langsam voran. Aber jedes bisschen Fortschritt kann sehr interessant sein.
So hat zum Beispiel die Suche nach dem Higgs-Boson 30 Jahre gedauert. Wie sehen Sie den Aufwand, den man investiert, in die Suche nach neuen Daten und experimentellen Beweisen? Sollte es mehr oder weniger sein?
Das ist eine sehr gute Frage. Denn es ist schwer, die Balance zwischen grossen, anspruchsvollen, fundamentalen Fragen und kleineren, eher erreichbaren Zielen zu finden, die wir ebenso verfolgen können. Die Grundlagenforschung bekommt nie ganz so viel Förderung und Beachtung wie sie sollte. Grundlagenforschung heisst: Forschung, die wir machen, um Sachen herauszufinden, und die nicht unbedingt auf Anwendung zielt. So bekommen wir weniger Unterstützung als direktere, angewandte Forschung. Aber wir halten uns gut. Wir haben das Higgs-Boson entdeckt. Des Weiteren ist Theorie sehr günstig zu finanzieren. Es wäre ein Desaster, wenn wir all unsere Forschung auf grundlegende Gesetze konzentrieren würden, anstatt uns auch eher sichtbaren Phänomenen zuzuwenden. Umgekehrt, wäre dies auch der Fall, wenn wir uns nur um Sachen kümmerten, die eine sofortige technologische Nutzung versprächen.
Was würden Sie schätzen: In welchem der verschiedenen Forschungszweige der Kosmologie wird am ehesten neue Physik entdeckt werden?
Die Hürde am Fortschritt ist weniger die Schwierigkeit der Probleme, sondern dass wir eigentlich ein sehr gutes theoretisches Verständnis haben. Wir haben die Allgemeine Relativitätstheorie, welche die Gravitation beschreibt, das Standardmodell der Teilchenphysik, die Quantenfeldtheorie und das Standardmodell des heissen Urknalls. Zu diesen gibt es kein einziges experimentelles Gegenargument. Aber wir wissen auch, dass diese Theorien nicht die letzte Antwort sein können. Deshalb können wir sehr sicher sein, dass wir neue Phänomene im Universum entdecken werden. Ein Beispiel sind Gravitationswellen. Einerseits haben wir diese bisher nicht direkt gesehen, andererseits sagt unsere Theorie sie eindeutig voraus. Sie existieren mit Sicherheit, wir haben nur noch nicht Detektoren gebaut, die sensitiv genug für sie sind. Aber in fünf Jahren werden wir diese haben. Deshalb wäre es dann eine wesentlich grössere Überraschung, wenn wir keine Gravitationswellen finden würden.
Eine schwierigere Frage ist: Wo werden wir etwas finden, das ausserhalb unseres gegenwärtigen Verständnisses liegt?
Dunkle Materie ist der offensichtliche Ort, um danach zu schauen. Denn wir wissen einerseits, dass sie existiert. Es gibt sehr gute empirische Beweise. Aber anderseits haben wir sie noch nicht direkt nachgewiesen. Es gibt keine Garantie, dass wir sie überhaupt nachweisen können, deshalb ist sie nicht Teil des gegenwärtigen Verstehens. Aber es würde selbstverständlich helfen, wenn es in den nächsten fünf Jahren direkte experimentelle Detektionen von Dunkler Materie geben würde.
Sie beteiligen sich an einer Vielzahl von Outreach-Aktivitäten: Fernsehsendungen, öffentliche Vorlesungen und so weiter. Was war die Hauptmotivation für Sie, in dieser Richtung der Wissenschaft aktiv zu werden?
Ein Teil davon ist sicherlich, dass die Art von Physik, die ich betreibe, mit diesen Fragen über das Gesamtbild, keine sofortige technologische Anwendung hat. Weshalb beschäftigen wir uns also damit? Manchmal hat man Glück und es kommt sogar eine technologische Anwendung dabei heraus. Aber das ist nicht der Grund, weshalb wir es machen. Wir machen es, weil wir neugierig sind. Es ist ein grundlegender menschlicher Wunsch die Antworten zu finden. Also müssen wir es auch mitteilen wenn wir etwas über diese Fragen entdecken. Schliesslich werden wir dafür auch bezahlt. Somit ist es absolut entscheidend, dass wir es der breiten Öffentlichkeit ermöglichen, diese wichtigen wissenschaftlichen Fragen zu schätzen.
Teil Ihres Erfolgs auf diesem Gebiet ist Ihr Talent komplexe physikalische Sachverhalte in eine allgemeinverständliche Sprache zu bringen. Geben Sie darauf besonders Acht? Oder würden Sie sagen, dass Ihnen das von Natur aus liegt?
Ich weiss nicht, ob es in meiner Natur liegt. Diese Aufgabe brachte mir tatsächlich ziemlich viel Arbeit. Aber ich denke, sie ist wichtig, und ich geniesse sie auch. Es ist nicht ganz uneigennützig. Ich versuche nicht ausschliesslich, die Welt zu verbessern. Wenn man versucht Dinge anderen sehr sorgfältig zu erklären, dann verbessert man wirklich sein eigenes Verständnis. Unabhängig davon, ob ich PhD-Studierende unterrichte oder versuche, ein breiteres Publikum zu erreichen, ist es meiner Meinung nach Teil der intellektuellen Aufgabe, herauszufinden, was die einfachste Art ist, auf die wir diese tiefgreifenden Ideen verstehen und darüber sprechen können. Darüber hinaus sollten wir diese so vielen Leuten wie möglich erklären können.
Eine weitere Ihrer Aktivitäten, ist Ihre Arbeit als wissenschaftlicher Berater in Hollywood-Produktionen. Die bekanntesten davon sind wohl «The Big Bang Theory» und «Angels and Demons». Wie genau wurden Sie darin involviert und wie sieht diese Arbeit aus?
Der wichtigste Teil davon ist Wissenschaftler zu sein und in Los Angeles zu leben, weil dort die ganzen Fernsehserien und Filme gedreht werden. Hat man dazu noch eine moderate öffentliche Bekanntheit, dann finden sie einen über kurz oder lang. Es gibt auch ein Programm von der National Academy of Sciences, um Wissenschaft und Hollywood zusammenzubringen. Denn viele Filme und Serien in den USA beinhalten wissenschaftliche Konzepte. Es ist einerseits ein grossartiger Weg viele Menschen zu erreichen. Denn viel mehr Leute schauen «The Big Bang Theory» als sich jemals meine Vorträge anhören würden. Andererseits, handelt es sich bei solchen Serien natürlich nicht um ein pädagogisches Werkzeug. Doch zumindest merkt man vielleicht, dass es dort draussen Physik gibt.
Ein grosser Teil Ihrer Outreach-Arbeit ist an die Fragen gerichtet, die aus der Kluft zwischen Religion und Wissenschaft entstehen. Wie sehen Sie diese zwei Ansätze des Menschen, sich ein Bild von Natur und Gesellschaft zu machen?
Ich persönlich würde mich als Naturalisten bezeichnen. Das ist, wie ich meine, was es bedeutet Atheist zu sein. Atheist zu sein, sagt aus: «Ich glaube nicht an Gott.» Das ist eine negative Aussage, darüber, woran ich nicht glaube. «Ich bin Naturalist» ist eine eher positive Aussage. Nämlich die, dass ich an die natürliche Welt glaube, die Gesetze befolgt, welche die Wissenschaft entdecken kann. Offensichtlich stimmt dem nicht jeder zu, sei es weltweit oder auch nur innerhalb der Wissenschaft. Ich kenne viele Studierende und Kollegen, die religiös sind. Aber meiner Ansicht nach hat das Erforschen der Welt, das Herausfinden, wie die Welt funktioniert, es überflüssig gemacht, sich an etwas ausserhalb der natürlichen Welt zu wenden. Es macht mich auch sehr glücklich, Vorträge zu halten, oder Bücher zu schreiben usw. mit der Aussage, dass dies die Schlussfolgerungen sind, bei denen wir auf wissenschaftlichem Wege angelangen. Ich denke auch, dass dies viele Fragen unbeantwortet lässt und dass Religion sehr viel mehr ist als der Glauben an Gott. Es ist ein ganzes System, sein Leben zu leben. Ich meine, dass die Wissenschaft den Glauben an Gott entfernt hat, jedoch nicht das System, wie man ein gutes und sinnvolles Leben führt. Letzteres ist eine philosophische Frage.
Abgesehen von Ihren Kollegen in der Kosmologie: Haben Sie andere persönliche Erfahrungen mit religiösen Menschen, von denen Sie sagen würden, dass Sie ihre Sicht der Situation definieren?
Ich hatte schon viel Erfahrung mit religiösen Menschen. Ich wuchs in einem religiösen Haushalt auf und besuchte eine katholische Universität als Student. Ich nahm drei oder vier Semester Theologie. Somit habe ich eine Reihe von verschiedenen Arten erlebt, wie man über Religion denken kann. Viele meiner besten Freunde sind religiös. Für mich persönlich sieht es so aus, dass immer mehr und mehr Menschen immer weniger und weniger religiös sind. Ich habe auch mal einen Kurs über die Geschichte des Atheismus gelehrt. Dort setzte ich mich mit dessen Entstehung und intellektueller Entwicklung durch die Philosophie auseinander. An ein naturalistisches Weltbild zu glauben lässt viele Fragen unbeantwortet, was die Leute unbefriedigend finden.
In allen westlichen Ländern haben wir einen Kontrast zwischen religiösen und wissenschaftlichen Meinungen. In den USA geht es dabei nicht nur um abstrakte Fragen über das Universum, sondern auch um alltägliche Dinge, die somit Einfluss auf die Politik haben. Wie sehen Sie das?
Da die USA sehr gross sind, gibt es dort sehr viele regionale Unterschiede. In der Physikfakultät am Caltech, sind meine Ansichten in keiner Art aussergewöhnlich. In einer kleinen Stadt in Georgia hingegen wird niemand damit übereinstimmen. Es hat also einen Effekt auf die Politik. Die Menschen werden kämpfen, um ihre Kultur, Gesellschaft und Lebensart zu verteidigen. Vor ein paar Jahrzehnten noch hatte niemand in den USA Probleme damit, an den Klimawandel zu glauben. Aber seit es ein politisches Thema geworden ist und obwohl die Beweise dafür stärker und stärker werden, hat die Zahl derer, die daran glauben, abgenommen. Hinzu kommen sicher weitere wissenschaftliche Fragen, wie der Kreationismus und die Darwin‘sche Evolution. Teils deswegen kann ich als Wissenschaftler nicht darüber schweigen, was die Implikationen der wissenschaftlichen Erkenntnis sind. Es ist meiner Meinung nach ein grosser Fehler zu sagen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Religion gäbe. Denn offensichtlich sind diese Ideen verwandt miteinander und sie haben einen Effekt auf das Denken der Menschen.
Diese grundverschiedenen Meinungen und Weltbilder könnten bei einer politischen Abstimmung über die Kürzung wissenschaftlicher Förderung relevant werden. Sehen sie darin eine Gefahr?
Ich denke, es besteht sogar eine grosse Gefahr. Zwar sind die Wissenschaft und ihre Förderung etwas, das in den USA oder anderswo gemeinhin fast jeder befürwortet, aber spezifische wissenschaftliche Projekte können als Teil von breiteren politischen Themen angegriffen werden. In den USA kommt es sicher in individuellen Staaten vor, dass die Haltung weniger pro-wissenschaftlich ist. Dann leidet das Bildungssystem sehr stark darunter.
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Zur Person
Am 17. November 2014 war Professor Sean Carroll vom California Institute of Technology im Rahmen des Schrödinger Colloquiums an der Uni Zürich. Carroll ist nicht nur innerhalb der Physik-Community für seine Forschung auf fundamentalster Ebene der Kosmologie bekannt, sondern durch eine Vielzahl an Outreach-Projekten auch in der amerikanischen Öffentlichkeit. Seine zwei populärwissenschaftlichen Bücher tragen die Titel: «The Particle at the End of the Universe» und «From Eternity to Here». Eine weitere seiner aussergewöhnlichen Aktivitäten ist die Arbeit als wissenschaftlicher Berater bei der Serie «The Big Bang Theory» und anderen Hollywood-Produktionen. Ausführliche Informationen zur Person unter preposterousuniverse.com.