Sina Jenny

Wir nützen

28. November 2014

Die Kritik an den Geisteswissenschaften ist das Resultat einer kapitalisierten Denkweise. Ein Essay von Andreas Rizzi

Essay - Wird gefragt: «Was bringt ihr?» oder «Was bringen wir?» offenbart sich die Vorstellung, die Geisteswissenschaften seien nicht Teil der Gesellschaft. So, als ob ein Kunststudent ein Bote wäre, der der Menschheit von aussen her das Geschenk der Erkenntnis überbringen könnte. Die Fragen implizieren also «Wir» versus «Ihr».

Ja, Geisteswissenschaften haben einen Nutzen, nützen nicht bloss sich allein als eine Art Selbstläufer, sondern der jeweiligen Gesellschaft, in der sie praktiziert werden. Nun, «Gesellschaft» ist abstrakt, also sprechen wir doch lieber von Menschen mit realen materiellen Bedürfnissen und Ideen, Gedanken und Gefühlen, die nicht minder real sind. Als Wissenschaft des Geistes produziert beispielsweise die Geschichte keine materiellen Güter. Wie auch, denn sie ist eben unverrückbar mit dem Geistigen verbunden. Was nicht heisst, sie produziere nichts, das ist ja überhaupt nicht möglich. Die Waren, wenn man so will, die sie herstellt, sind Gedanken und Ideen. Und genau hier gelangen wir zum Wesentlichen: Aus der geisteswissenschaftlichen Praxis resultiert Wissen um die Beschaffenheit des Zusammenlebens realer Menschen und Wissen um die materiellen und geistigen Umstände, die dieses Zusammenleben bestimmen. Nun muss man ein allzu grosser Utilitarist oder Zyniker sein, um zu behaupten, die Vermittlung dieses Wissens sei weniger wert als die Generierung von unmittelbarem oder finanziellem Nutzen oder gar überhaupt nichts wert.

Weiter ist leicht zu erkennen, dass das Wissen um sich selbst ein wesentliches Merkmal des Menschseins ist. Geisteswissenschaften leisten also einen gesamtgesellschaftlichen Wert in dem Sinne, dass sie diese zentrale Kategorie des Menschseins, die Möglichkeit des Selbst-Erkennens des Menschen als Mensch, mitermöglichen, indem sie dieses spezielle Wissen bewahren, überliefern, untersuchen, modifizieren und somit ständig erneuern. Wüssten wir ohne die Disziplin der Geschichte, also ohne das Wissen um unsere Vergangenheit, heute noch, dass das Frauenwahlrecht in der Schweiz erkämpft werden musste? Freilich kann daraus keine Handlungsanweisung für Menschen entstehen. Nein, denn der Wert der Geisteswissenschaften liegt darin, dass sie aufzeigen, wie es war oder gewesen sein könnte, und damit die Basis dafür schaffen, dass sich Menschen Gedanken machen und sich auf die eine oder andere Art verhalten können (nicht müssen!). Sie bieten die Möglichkeit, sich zu entscheiden oder nicht.

Dominierende Vorstellungen ablösen

Was nützen die Geisteswissenschaften? Die Frage impliziert ja nichts Anderes als dass die Wissenschaften des Geistes im jetzigen Moment eben keinen Nutzen haben für das Zusammenleben – wenn sie es hätten, müsste man die Frage nicht stellen. In der stark ökonomisierten und rationalisierten Umwelt, in der wir leben, versteht man unter «Nutzen» erstens unmittelbar sichtbaren und zweitens finanziellen Nutzen. Nützlich ist eine ausgebesserte Strasse, denn sie erleichtert meinen Arbeitsweg. Nützlich sind Investitionen in die Atomindustrie, denn dank billiger Energie spare ich Geld. Nun sind diese beiden Definitionen zwar die momentan vorherrschenden, aber grundsätzlich nicht die einzig möglichen und vorstellbaren. Sie haben keine naturgesetzliche Gültigkeit. Weshalb den Nutzen-Begriff, die Vorstellung von Ökonomie, die sich allein am Unmittelbaren orientiert, nicht erweitern zugunsten einer Vorstellung von allgemeiner Nützlichkeit für das Zusammenleben von Menschen? Wenn wir die heute dominierende Definition von Nutzen aufgeben und sehen würden, dass nicht nur die Ökonomie mit ihrem messbaren Mehrwert, sondern auch Ideen und Gedanken nützlich und produktiv sind, dann würde die Berechtigung der Geisteswissenschaften vielleicht nicht mehr infrage gestellt.

Wenn also die Frage gestellt werden muss, ob und wozu die Geisteswissenschaften nützlich sind, obwohl sie ja bereits einen offensichtlichen Nutzen haben im Zusammenleben von Menschen, dann liegt es daran, dass eine zu enge Vorstellung von Nutzen, Nützlichkeit und Wert vorherrscht und die Geisteswissenschaften nicht als Teil des Sozialen angesehen werden. Würde man sich dessen bewusst, würde vielleicht viel von der Polemik wegfallen, wäre der Weg im besten Fall frei für ein besseres Verständnis des Anderen und ein Text dieser Art nicht nötig.