Wir müssen nichts
Nur die Freiheit des Denkens zählt. Ein Essay von Simon Truog.
Was «nützen» die Geisteswissenschaften? Was müssen sie leisten? Diese Fragen klingen nach der Nützlichkeitsmaxime einer ökonomisierten Weltsicht, nach der jeder seinen Beitrag zum Wohlstand leisten muss. Die Geisteswissenschaften entziehen sich gerade einer solchen einseitigen Sichtweise – das Wirtschaftliche ist nur einer von vielen Aspekten des Lebens. Wenn die Nutzen-Frage so gemeint ist, antworte ich: Die Geisteswissenschaften nützen nichts. Kein messbarer Nutzen, kein monetärer Wert. Stellt man sich jedoch die Frage, was Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler für eine Funktion ausüben können in einer Gemeinschaft von Menschen, die untereinander ausmachen, wie sie zusammenleben wollen, dann ist es eine wichtige. Ich will im Folgenden zwischen zwei Formen dieser Funktion – Expertentum und Kritik – unterscheiden und argumentieren, weshalb ich die Letztere für sinnvoller halte.
Expertentum: Tipps für Erwachsene?
Auf Radio 1, dem «Radio für Erwachsene», wurde kürzlich in einer Wissenschaftssendung berichtet, immer mehr berufstätige Menschen hätten Stress und seien Burnout-gefährdet. Darauf gab ein Psychologe die folgenden Tipps zur Entlastung: bewusste Pausen machen, Tee trinken und am Wochenende spazieren gehen. Ein anderes Mal erfuhr man: «Forscher konnten nachweisen, dass eine halbe Tafel schwarze Schokolade Stresshormone eindämmt.» In einer weiteren Sendung gaben Forscher Anleitungen, wie man sich vom ungesunden Guetzlikonsum in der nahenden Weihnachtszeit abhält: 30 Sekunden lang eine Wand anstarren, mit den Zehen ein halbe Minute auf den Boden klopfen oder 30 Mal mit dem Zeigefinger gegen das Ohrläppchen tippen. Das klingt wie die Wiederkehr der Magie im Deckmantel der Wissenschaft. Ob jemand solche Forschungsergebnisse ernst nimmt, ist für meine Argumentation unwesentlich. Worauf es mir ankommt, ist das von diesen Beiträgen gezeichnete Bild von hilflosen Menschen, die Anleitungen von Expertinnen und Experten benötigen, die diese anhand ihrer (oftmals dubiosen) Studien entwickeln. Ich glaube nicht, dass irgendjemand solche Tipps braucht, eher entspringt diese Art von Bevormundung einer Selbstüberschätzung der Wissenschaft.
Kritik: Autonomie und Freiheit
Im Gegensatz dazu schreibt die Kulturkritikerin niemandem vor, wie er zu leben hat, sondern sie hinterfragt die gängigen Praktiken und Redeweisen und versucht so, die Menschen dazu anzuregen, die Dinge anders zu sehen. Dem liegt die aufklärerische Überzeugung zugrunde, dass die Individuen einer Gemeinschaft möglichst selbstbestimmt leben sollen. Es wäre auch vermessen, zu glauben, ein Philosoph wisse als eine Art «Experte für das Leben» besser, was jeder Einzelne tun und denken soll – genauso wenig weiss er wegen seines Berufs immerzu, wie er sein eigenes Leben zu führen hat. Das soll nicht heissen, dass jeder Mensch selbst zum Philosophen werden muss. Vielmehr lässt er sich von der Kritik zu eigenen Gedanken anregen, so, wie der Philosoph sich von seinen Vorgängern inspirieren liess.
Während zudem der Experte versucht, nützliche Resultate zu veröffentlichen (und deshalb auch mal eine Studie fälscht), nimmt sich die Kulturkritikerin die Freiheit, eine eigene Sicht auf die Welt zu entwickeln und ihre Ideen aus der Lektüre von Büchern und Quellen sowie der Neugier auf Kultur zu gewinnen. Denn Wissenschaft und Philosophie brauchen Kreativität, Leidenschaft und Zeit, und dafür braucht es Freiheit, wogegen (Nützlichkeits-)Druck ein Kreativitäts-Killer ist. Hier geht es dem Geisteswissenschaftler ähnlich wie dem Bürger. Wenn der Experte Letzterem vorschreibt, wie er leben soll, tut er dies nur widerwillig. Wenn der Nutzen der Philosophin vorschreibt, was sie produzieren soll, dann tut sie das ebenso ungern.
Zum Schluss will ich meine Gedanken auf meinen eigenen Essay anwenden. Verwickle ich mich nicht in einen Selbstwiderspruch? Trete ich nicht als vermeintlicher Experte für geisteswissenschaftliches Engagement auf und sage, was zu tun ist? Nein. Ich kritisiere das Expertentum und schlage die Kritik vor, aber ich behaupte nicht: Das ist wissenschaftlich erwiesen und darum sakrosankt. Ich plädiere für eine Idee, und es wird von meinen rhetorischen Fähigkeiten und der Stärke meiner Argumente abhängen, ob ich damit überzeugen kann.