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Kein Anzug passt

28. November 2014

Mit Hund Hugo schmust er gerne, sonst mag er keine menschlichen Kontakte. Der 40-jährige Florian Burkhardt hatte bisher ein vielseitiges Leben. Das, obwohl er seine Geburt erst mit 21 Jahren erlebte, wie er selbst sagt. Zu der Zeit beschloss er, nach Hollywood auszuwandern.

Der Schweizer Regisseur Marcel Gisler nahm sich dieses Lebens an. Bereits 2008 wurde Gisler angefragt, die Regie für einen Spielfilm über Florian Burkhardt zu übernehmen. Damals lehnte er ab. Erst als 2010 die Anfrage von der Produktionsfirma Langfilm kam, sagte er zu, weil er einen Dokumentarfilm über den Stoff die bessere Lösung fand. Das Resultat: Gislers erster Dokumentarfilm, ein packender 113-minütiger Streifen. Die Ortswechsel und die Perspektivenvielfalt machen den Film lebendig. Zu Wort kommen Florians Eltern, Agenten und Wegbegleiter. Gedreht wurde in Berlin, wo Burkhardt heute lebt, aber auch in Zürich, Luzern, Locarno, Los Angeles und Indien.

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, überquert Florian mit 21 Jahren den Atlantik, um in Los Angeles eine Filmkarriere zu beginnen. Erfolgreich wird er jedoch als Model. Dann verliebt er sich und richtet sich neu aus. Er beginnt im Bereich Webdesign zu arbeiten; bei der damals angesagtesten Zürcher Internetagentur R.O.S.A. 2001 beginnen Panikattacken aufzutreten, bis Florian eines Tages nicht mehr fähig ist, auf die Strasse zu gehen. Schliesslich erfolgt die freiwillige Einlieferung in die psychiatrische Klinik Burghölzli. Diagnose: «Generalisierte Angststörung bei narzisstischer Persönlichkeitsstruktur mit Selbstwert- und Identitätsproblematik mit Anteilen einer sozialen Phobie». Medikamente und enge persönliche Betreuung helfen ihm, die Selbstständigkeit wiederzuerlangen. Am 30. Geburtstag feiert er eine öffentliche Party unter dem selbstgeründeten Label Electroboy, das zu einer erfolgreichen Partyreihe wird. Das Ziel: die absolute Reizüberflutung. Wieso dieses Label ein so wichtiger Teil seines Lebens ist, dass sogar der Film diesen Namen trägt, wird jedoch nicht ganz klar. Mit 32 Jahren beginnt Florian Invalidenrente zu beziehen. Wegen zu hoher Lebenskosten in der Schweiz zieht er nach Berlin, wo er heute noch lebt. Es ist ihm nicht möglich, seinen Alltag ohne Medikamente zu bestreiten.

Was den Film ausmacht, ist die gnadenlose Ehrlichkeit. Florian, seine Familie und Wegbegleiter lassen einen an intimen Erlebnissen teilhaben und scheuen sich nicht, Gefühle zu zeigen. Obwohl Florian der Protagonist des Films ist, gibt es auch in den Geschichten der Nebendarsteller überraschende Wendungen. Gisler merkt an: «Florian hat verschiedene Identitäten wie Anzüge anprobiert, aber keiner wollte ihm richtig passen, bis ihm am Ende nichts anderes übrig blieb, als sich nackt im Spiegel zu betrachten.» In einem Auszug aus Florians Blog meint er, die Vorbereitungen auf den Film und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hätte ihm neue Motivation gegeben. Es profitieren demnach alle. Florian hat seinen Geist neu geweckt und Gisler konnte einen eindrücklichen Doku-Erstling abdrehen. Ein exzellentes Kinoerlebnis.

Electroboy (2014) läuft in Zürich in den Arthouse-Kinos.