«Dazu bestimmt, die Brosamen der Innovationen historisch einzuordnen» – oder Kleider, wenn man keinen Job findet. Sina Jenny

«Ihr kostet nur und gebt nichts zurück»

In Schwamendingen, an der ETH und am Gymnasium Rämibühl: Die Geisteswissenschaften kommen nicht überall an.

28. November 2014

Wir können uns lange selbst Honig ums Maul schmieren und unsere Existenz als Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler philosophisch rechtfertigen. Doch ausserhalb der Mauern des Elfenbeinturms imponiert das wenig. Also wagen wir uns raus, um zu erfahren, was wir taugen. Und wir starten dort, wo der studierten Elite der Spiegel unbarmherzig vorgehalten wird: am Schwamendingerplatz.

Es ist in der Tat ein hartes Pflaster. Um uns herum hacken Presslufthämmer Löcher in den Boden. Männer in Orange giessen neben dem Platz heissen Teer in eine Baugrube. Man bekommt Kopfweh vom Geruch der zähen Flüssigkeit. Trotzdem tummeln sich auf dem Platz hinter den Bauabschrankungen Leute. Das Wasserspiel in der Mitte zieht vor allem Kinder an. Es zeugt vom guten Willen der Quartiergestalter, aber die Trostlosigkeit hängt über allem. Wie schätzt man hier den Wert der Geisteswissenschaften ein?

Gemächlich schreitet ein alter Herr über den Platz, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er erinnert an einen gedankenverlorenen Philosophen. Auf unsere Frage hin, was Geisteswissenschaften der Gesellschaft seiner Meinung nach nützen, schüttelt er nur den Kopf, verzieht die Lippen, murrt: «Das weiss ich doch nicht» und zieht trotzig weiter. Auch bei einer Gruppe von jungen Frauen haben wir kein Glück. «Geisteswissenschaften? Sorry, kei Ziit.» Doch dann kommt eine Familie auf den Platz: Neben dem Kinderwagen steht ein kleines Mädchen und schaut uns mit seinen braunen Knopfaugen fragend an, während sein Papa antwortet: «Wer Geisteswissenschaften studiert, endet brotlos.» Er selbst habe Germanistik studiert. Gebracht habe es ihm wenig bis nichts. Heute ist er Software-Entwickler. «Trotzdem haben die Geisteswissenschaften auch ihr Gutes: Sie pflegen unser kulturelles Erbe.» Das Mädchen mit den Knopfaugen wird ungeduldig; die Familie muss weitergehen.

Von unserem Gespräch neugierig geworden, kommt ein Mann Mitte 40 mit einem Kinderwagen auf uns zu. Was wir hier wollen, fragt er. Wir erklären uns, worauf sich der Mann nachdenklich am unrasierten Kinn kratzt. Geisteswissenschaften hätten wohl keinen grossen Nutzen, findet der Ur-Schwamendinger. «Aber sie können erklären, warum es mit uns bachab geht.» Trotzdem hätten sie keinen grossen Einfluss auf die Welt. Die einzige Rechtfertigung der Geisteswissenschaften sei die Reflexion der Gesellschaft. «Studierte müssen es schaffen, Kompliziertes mundgerecht wiederzugeben», sagt der Künstler und verabschiedet sich.

Beim Wasserspiel sitzen Randständige auf einer Bankgruppe. Neben ihnen liegen leere Bierdosen. Das Mundwerk sitzt locker. «In der Schweiz wollen alle studieren», sagt ein Arbeitsloser mit Sonnenbrille und Schnauz. «Für die praktischen Jobs braucht ihr dann die Ausländer.» Er, der gebürtige Tscheche, hat selbst Elektronik studiert. In der Schweiz arbeitete er zuletzt bei einer Umzugsfirma. «Philosophie ist wie Astrologie», antwortet er schliesslich auf unsere Frage. «Sie bringt nichts.»

«Habt ihr einen Fragebogen?»

Ernüchtert vom Stand unserer Denkschule, entschwinden wir schnell ins nächste Tram Richtung ETH. Wie ist das Bild der Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler von ihren Nachbarn von nebenan? «Also mal ganz ehrlich: Geisteswissenschaften bringen echt nichts», lautet das vernichtende Urteil von Samet, der im ersten Semester Mathe studiert. Wir ziehen weiter und landen bei der Biologiestudentin Fabienne. «Habt ihr keinen Fragebogen, wo ich ein Kreuz setzen kann?», fragt sie uns. Als wir verneinen, erklärt sie: «Studierende der Geisteswissenschaften übermitteln unsere Traditionen.» Daher sei die Finanzierung ihres Studiums durch den Staat gerechtfertigt.

Nun gelangen wir an Beni, einen verkappten Philosophiestudenten, der sich wegen mangelnder Berufsperspektiven für ein Mathestudium entschieden hat. Die Wirtschaft dominiere heute alles, findet er. Daher könnten Philosophen kaum Einfluss nehmen auf die Gesellschaft. «Und doch sind sie ja diejenigen, die Anregungen geben, wie wir unser Leben gestalten sollten.» Benis Kumpel Emanuel, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat, nickt nun bekräftigend und ergänzt: «Man könnte viel mehr von angewandter Philosophie profitieren, als wir es heute tun.»

Auf dem Weg zur Tramhaltestelle treffen wir David, der in Klimawissenschaften doktoriert. «Wir Naturwissenschaftler sind oft technisch begabt, aber können unsere Innovationen nicht ethisch einordnen. Das sei die Aufgabe der Geisteswissenschaften. Er drückt seine Zigarette aus und läuft ins Hauptgebäude der ETH. Während hier also Zukunft gemacht wird, sind wir dazu bestimmt, die Brosamen der Innovationen historisch einzuordnen.

Weisheiten im Grasnebel

Aber was denken angehende Studis? Das versuchen wir an der Kanti Rämibühl herauszufinden, einem Gymnasium mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Vier Schüler sitzen auf einer Treppe. Im Hintergrund dröhnt schmalziger R’n’B aus einer Dockingstation. Schon von weitem sticht uns ein bissiger Marihuana-Geruch in die Nase. «Naja, Psychologen und Sozialwissenschaftler können ja Menschen heilen», findet Marco, während er am Pape seines Joints leckt. «Und die Literaturwissenschaft bringt ja auch einen gewissen Unterhaltungswert.»

Darauf meldet sich Pete: «Die ganze Staatswissenschaft basiert ja auf der Philosophie. Die Geisteswissenschaften sind also das Fundament der modernen Gesellschaft.» Nicht schlecht, aber was sagen sie zur Kritik, dass Studierende der Geisteswissenschaften nur Steuergelder verschwenden? «Geld ist nicht alles», findet Marco und nimmt einen tiefen Lungenzug. «Kultur ist mindestens genauso wichtig.» – «Genau», sagt Pete. «Geisteswissenschaften nützen eher im gesellschaftlichen Sinn.»

Dem widerspricht Tamara, die wir im Aufenthaltsbereich treffen. Sie isst gerade ein Avocado-Brötchen, findet aber genug Zeit, um zwischen den Bissen gegen Studierende der Geisteswissenschaften zu wettern: «Die kosten nur und geben wenig zurück. Der Staat hat nun mal begrenzte Mittel. Was denkt ihr denn, sollte man damit lieber Ärztinnen oder Philosophen finanzieren?», fragt sie keck und gibt gleich noch einen drauf. «Es soll mir mal jemand erklären, warum man Englisch und Deutsch studieren soll, wenn die beiden Sprachen in diesem Land sowieso jeder beherrscht?» Tamara nimmt noch einen Bissen von ihrem Brötchen und holt zum finalen Schlag aus. «Philosophie ist ja ganz ok, aber was bringt’s? Nichts!»