Der Erinnerungshype um den Ersten Weltkrieg nimmt bizarre Formen an. Michael Kuratli

Hurra, es war Krieg

100 Jahre Erster Weltkrieg: Auch die Schweiz wird vom Erinnerungskult nicht verschont.

28. November 2014

Vor 100 Jahren ist er ausgebrochen, der «Grosse Krieg». Das müsste jetzt auch der letzte Mensch mitbekommen haben. Denn auf der ganzen Welt wird des Ausbruchs des globalen Gemetzels gedacht, das als «Erster Weltkrieg» in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Dies allerdings in einem solchen Ausmass, dass von einem regelrechten «Erinnerungshype» gesprochen werden kann. Gedenkveranstaltung reiht sich an Gedenkveranstaltung, Ausstellung an Ausstellung, Sachbuch an Sachbuch.

Vor allem in Europa, wo die meisten Kriegstoten zu beklagen waren, treibt der Erinnerungskult üppige Blüten. Viele Nationen zelebrieren das sogenannte «Centenaire» des Kriegsausbruchs auf verschiedenste Weise. Das ist logisch, schliesslich forderte der Krieg zwischen 1914 und 1918 über 17 Millionen Menschenleben. In Grossbritannien erinnerten zum Beispiel zwischen August und November 888'246 Keramik-Mohnblumen am Tower of London an die britischen Gefallenen im Ersten Weltkrieg.

Frankreich und Deutschland gedenken des Ersten Weltkriegs gemeinsam, mit verschiedenen Veranstaltungen. Dabei betrachten die Franzosen den «Grande Guerre» als nationalen Mythos, in dem das Land seinen Angreifern vereint und opferbereit entgegentrat. In Deutschland ist das Gedenken Teil einer wahren Erinnerungsorgie, in der auch des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs vor 75 und des Mauerfalls vor 25 Jahren gedacht werden muss. Am 11. November wurde als vorläufig letzter Akt auf französischem Boden der «Ring der Erinnerung» eingeweiht – ein gewaltiges Mahnmal in Form eines ovalen Betonrings, auf dem die Namen von über einer halben Million Gefallenen aus verschiedenen Ländern eingraviert sind.

Auch in der Schweiz ist der Erste Weltkrieg Gegenstand öffentlichen Interessens, auch wenn das Land nicht unmittelbar am Krieg beteiligt war. So beleuchtet die Wanderausstellung «14/18 – Die Schweiz und der Grosse Krieg», die derzeit in Basel zu sehen ist, die Geschichte der Schweiz zwischen 1914 und 1918.

Die letzte Ausstellung im Zürcher Strauhof befasste sich mit der Schweizer Literatur in der Kriegszeit, während sich die Besucher im Kommunikationsmuseum Bern mit der Kriegspropaganda in der Schweiz auseinandersetzen konnten. Zusätzlich wird im akademischen Bereich rege zum Thema «Schweiz im Ersten Weltkrieg» geforscht und publiziert. Die Universitäten Bern, Genf, Luzern und Zürich betreiben sogar ein gemeinsames Forschungsprojekt, dessen Gesamtverantwortung der Zürcher Professor Jakob Tanner trägt.

Opfer der Erinnerungsindustrie?

Dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg kann man dank dem «Centenaire» also in ganz Europa schlecht entgehen. Doch: Warum diese Erinnerungsmanie? Der letzte Veteran dieses Krieges starb im Jahr 2011 – im Alter von 110 Jahren. Wem bringt dieser gewaltige Erinnerungshype noch etwas? Der massenmedialen Erinnerungsindus­trie, die dank dem «Centenaire» einen riesigen Absatzmarkt schaffen kann, auf dem Bücher wie Granaten vor Verdun einschlagen? Oder stillt der Hype unser Bedürfnis nach realer Geschichte, die wir möglichst intensiv erleben wollen? Vielleicht stehen wir auch einfach auf das schauerliche Gefühl, wenn wir uns das Säbelrasseln in der Ukraine anschauen und dann Parallelen zum Jahr 1914 ziehen.

Für Jakob Tanner ist die Rückkehr des Ersten Weltkriegs in das öffentliche Bewusstsein nicht nur auf blos­se Erinnerungsindustrie zurückzuführen. In der Einleitung zum Sammelband «14/18 – Die Schweiz und der Grosse Krieg» schreibt er: «Vielmehr ist der Erste Weltkrieg der Gegenwart wieder näher gerückt. Der historische Rückblick hat an Relevanz und Tiefenschärfe gewonnen.» Dies ist auf die Umbrüche in der heutigen Welt zurückzuführen, die an die Situation vor 1914 erinnern. Heute wie damals plagen uns die unkontrollierbar erscheinende Globalisierung und die Krisenanfälligkeit der Finanzmärkte. Im Lichte dieser Parallelen, so Tanner, eignet sich der Erste Weltkrieg also als Analysefeld für die Heraus­forderungen unserer Zeit.

Lange vergessen

Gleichzeitig profitieren laut Béatrice Ziegler, Titularprofessorin an der Uni Zürich, viele Akteure von der Aufmerksamkeit, die dem Ersten Weltkrieg durch das «Centenaire» zukommt. Erstens die Forschung, die es sonst schwerer hätte, ihre Ergebnisse zu präsentieren. Zweitens die Europäische Union, die durch symbolische Akte ihre Friedensidee transportieren kann. Und drittens die Öffentlichkeit, die mehr über die Geschichte ihres Landes und der Welt erfahren kann.

Das ist vor allem in der Schweiz wichtig, wo der Erste Weltkrieg in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft nicht präsent war. Ziegler erklärt: «Lange Zeit wurde die Schweiz im Ersten Weltkrieg nicht im direkten Bezug zur Gegenwart thematisiert, sondern funktionalisiert für die Deutung der Gesellschaft und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wiedergegeben.» Erst mit dem «Centenaire» rückt das Thema in der Schweiz in das Bewusstsein der Menschen.

In diesem Licht sind auch die vielen Veranstaltungen, Publikationen und Ausstellungen in der Schweiz zu sehen. Hier wird ein längst überfälliges Kapitel Schweizer Geschichte aufgearbeitet, das wie kein anderes Ereignis in der Moderne die Schweiz nachhaltig veränderte. Es wird klar, vor welcher kulturellen und gesellschaftlichen Zerreissprobe das kleine Land in dieser Zeit stand. Kulturell, weil die unterschiedlichen Sprachgebiete trotz Neutralität nach aussen mit den verschiedenen kriegsführenden Mächten sympathisierten. Gesellschaftlich, weil sich durch Hunger und Wirtschaftskrise tiefe Gräben zwischen der armen Arbeiterschaft und dem reichen Bürgertum auftaten. Doch auch die Rolle der Armee und der Neutralitätsmythos werden genauer beleuchtet.

Neue Denkräume

Natürlich bringt das «Centenaire» auch ein Gedenktrommelfeuer mit sich, das kritisch zu beurteilen ist. Onlinekommentare etwa, die zu Gedenkfeierlichkeiten verlautbaren, dass der deutsche Angriff auf das neutrale Belgien völlig gerechtfertigt gewesen sei, da sonst Frankreich angegriffen hätte, zeigen: Der unheilvolle Geist des Revisionismus schwirrt immer noch in der Welt umher. Auch sind Bestseller wie Christopher Clarks «Die Schlafwandler» mit Vorsicht zu lesen. So versucht Clark etwa die Frage nach der Hauptkriegsschuld unter Ausblendung wichtiger Akteure zu beantworten. Trotzdem: Es wird geforscht, es wird diskutiert, und vor allem in der Schweiz entstehen neue Denkräume.

«In der Bevölkerung wird der Erste Weltkrieg vermutlich nach dem ‹Centenaire› wieder aus dem Blickfeld geraten», meint Béatrice Ziegler. «Das macht aber nichts. Es muss nicht alles permanent präsent gehalten werden.» Die Forschung wird mit den Ergebnissen weiterarbeiten, auch im Sinne einer Korrektur der «Schweizergeschichte». Resultate werden wohl erst in ein paar Jahren vorliegen. Vielleicht 2018, wenn sich das Ende des «Grossen Krieges» zum 100. Mal jährt.