Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno forscht zu Medizinethik. zvg

«Schmerzmittel sind keine Heilsbringer»

Ethikforscherin Nikola Biller-Andorno erklärt, warum wir so bereitwillig Medikamente schlucken und warum die Pharma­lobby eine Verantwortung gegenüber der Gesell­schaft hat.

25. Oktober 2014

Frau Biller-Andorno, sind wir heute alle Memmen?

Viele von uns sind gefordert, uns jederzeit optimal zu präsentieren. Wenn wir also Schmerz empfinden, schränkt das unsere Performance ein. Deshalb sind wir sensibler für Schmerzen geworden. Wir wissen auch: Wenn wir leiden, steht etwas gegen unsere Schmerzen bereit.

Lässt sich damit das immense Wachstum der Pharmaindustrie erklären?

Zum Einen steht uns heute eine breite Palette an wirksamen Medikamenten zur Verfügung. Zum Anderen ist wohl auch unsere Bereitschaft gestiegen, medizinische Produkte zu konsumieren. Zudem ist unsere Gesellschaft wohlhabend genug, um sich den medikamentösen «Quick Fix» leisten zu können.

«Quick Fix»?

Ja, die schnelle «Reparatur» von schmerzenden Stellen.

Das klingt so, als wären pharmazeutische Produkte ein Luxus, den wir uns leisten können.

Der Kräutertee der Grossmutter ist natürlich billiger. Aber wir wollen ja einen florierenden Gesundheitsmarkt. Und wenn wir bereit sind, das über Krankenkassenprämien oder aus der eigenen Tasche zu zahlen, ist klar, dass der Markt darauf reagiert.

Wer macht uns denn glauben, dass wir die Produkte alle brauchen, die die Pharmaindustrie herstellt?

Hier ist sicher Marketing ein wirksames Instrument.

Sind Werbekampagnen für pharmazeutische Produkte aus ethischer Sicht unproblematisch?

Konsumierende sollten einfach in der Lage sein, Angebote kritisch zu hinterfragen – auch bei Medikamenten. Das trifft aber genauso auf alle anderen Produkte zu. So werden etwa auch Nahrungsmittel massiv beworben, auch solche, die uns potentiell schaden können.

Medikamente sind aber keine Nahrungsmittel.

In der Werbung werden Schmerzmittel angepriesen als eine Art Heilsbringer. Rentner spielen mit ihren Enkeln, nachdem sie ein Schmerzmittel eingenommen haben. Dies suggeriert, dass wir bloss eine Tablette einnehmen müssen, und alles wird gut. An die Risiken und Nebenwirkungen denken wir nicht mehr. Hier wird eine Grenze überschritten.

Wie sieht es mit der Werbung in Apotheken aus?

Es kommt vor, dass Mitarbeitende angehalten werden, die Verkaufszahlen für bestimmte Produkte zu steigern. Verkäuferinnen und Verkäufer kommen hier in einen Interessenkonflikt. Sie stehen vor der Frage: Arbeite ich für das gesundheitliche Wohl der Patienten oder für das wirtschaftliche Wohl der Apotheke? Dabei ist klar: Es muss immer primär um die Patienten gehen.

Dasselbe gilt für Ärzte, die sich entscheiden müssen, ob sie Markenmedikamente oder Generika an Patienten abgeben.

Genau. Auch hier muss der Patient im Fokus stehen. Zudem müssen Ärzte darauf achten, keinen volkswirtschaftlichen Schaden anzurichten.

Wie meinen Sie das?

Die Frage ist: Was kann die Krankenkasse bezahlen? Können wir uns ein teures Medikament leisten oder tut es auch das Generikum? Aber die Ärzte wissen mittlerweile, dass sie eine moralische Verantwortung tragen, sowohl was das Patientenwohl als auch was den sorgsamen Einsatz öffentlicher Mittel betrifft.

Und welche Verantwortung trägt die Pharmalobby?

Es ist wünschbar, dass die Pharmaindustrie das Allgemeinwohl stark im Bewusstsein hat. Zum Beispiel sollte ein Medikamentenhersteller die Preise nicht nach Belieben festsetzen. Es geht darum, darzulegen, welche Kosten welchem Nutzen gegenüber stehen. Dass muss transparent sein.

Also muss aus ethischer Sicht auch Transparenz bei den Spendengeldern der Pharmalobby für Parteien herrschen?

Unbedingt. Genauso soll offengelegt werden, welche Zahlungen aus der Pharmaindustrie an Ärzte erfolgen.

Kann man daraus ableiten, dass die Medizin für uns eine Art Ersatzreligion ist?

Das ginge mir zu weit. Antibiotika bei einer Lungenentzündung einzusetzen, hat nichts mit Religion zu tun. In anderen Bereichen kann ich dieser These aber etwas abgewinnen. Gerade im Bereich Enhancement nimmt die Fixierung auf die eigene Leistungsfähigkeit quasireligiöse Züge an.

In diesem Spannungsfeld befindet sich ja auch die alternative Medizin. Wie ist diese ethisch einzuschätzen?

Hier müssen die Hersteller von alternativen Heilprodukten klar deklarieren, wenn sie keine wissenschaftliche Evidenz für das Wirken ihres Stoffs haben.

Wieso sollte man überhaupt solche Produkte konsumieren?

Wenn es für eine Krankheit kein wirksameres Medikament gibt. Hier kann die alternative Medizin helfen, die Selbstheilungskräfte in Gang zu setzen – nicht zuletzt durch den Placebo-Effekt. Solche Produkte können Hoffnung und Zuversicht geben.

Ist die zunehmende Pharmakologisierung eine Art Alltagsdoping?

Interessant ist, dass die meisten, die Neuro-Enhancer einnehmen, keine Überflieger sind. Sie dopen also nur, um nicht aus der Norm zu fallen, in einer Zeit, in der erwartet wird, dauernd auf einem Top­level mitzuhalten. Die Toleranz für sogenannte schlechte Tage ist verschwindend klein.

Das heisst, Neuro-Enhancer wirken nichts?

Klar können Kaffee, Energydrinks oder bestimmte Medikamente kurz was nützen – zum Beispiel, wenn wir Schwierigkeiten haben, uns zu konzentrieren oder wenn wir müde werden. Langfristiges kognitives Enhancement ist aber eine Illusion.

Und trotzdem nehmen wir solche Mittel. Kommen wir ohne nicht mehr zurecht?

Weil die Verfügbarkeit hoch ist, greifen wir immer wieder zu Aufputschern. Enhancement ist ein Spiegel der Gesellschaft, in der Präsenz, die Bewältigung grosser Mengen an Information und rasche Reaktion gefragt sind. Doch in diesem Hamsterrad verliert man, wenn man nur immer schneller rennt.

Gibt es überhaupt noch einen Weg zurück?

Es gibt immer einen Weg zurück. Wir entdecken gerade wieder den Reiz der Langsamkeit. Denken Sie an die Komplementärmedizin, wo es oftmals darum geht, zu entschleunigen.

Was passiert, wenn sich Frust, Verzweiflung und Ausgelaugtheit nicht mehr pharmakologisieren lassen?

Ich denke, die Burnout-Zahlen sprechen für sich. Hier stehen die Arbeitgeber in der Pflicht. Doch auch wir als Individuen müssen uns fragen, wie wir leben wollen. Wo will ich in meinem Leben Akzente setzen? Auf welche Leistung will ich stolz sein können? Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was uns wirklich wichtig ist. ◊