McWagner
Gehen junge Menschen noch in die Oper? Die ZS wagt sich an die epische Oper «Lohengrin» und sucht nach Antworten.
Der Abend ist gekommen. Wir wagen Wagner. Im Opernhaus Zürich wird die Oper «Lohengrin» aufgeführt. Länge: vier Stunden, 35 Minuten. Wir fragen uns, ob junge Leute überhaupt noch Interesse an Oper haben, und wenn ja: Fördert das Opernhaus dies? Denn es ist gut möglich, dass es den Verantwortlichen keine Sorgen bereitet, dass dem Ort der Kultur die Klientel wegstirbt. Mit diesen Fragen treffen wir eine Stunde vor Beginn im Opernhaus ein.
Unwissend stellen wir uns neben den Wartemarkendrucker. So ein Gerät kennen wir sonst nur aus der Post. Eine junge Frau in Jeans macht uns darauf aufmerksam, dass bereits eine Warteschlange besteht. Wir reihen uns ein. Schnell füllt sich der leere Raum mit Menschen, die ein Last-Minute-Ticket ergattern wollen. Jeans und T-Shirts, aber auch elegante Kleidung sind in der Schlange auszumachen. Kein Wunder, stehen so viele an, denn eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung erhält man Opern- und Ballettkarten für einen Bruchteil des regulären Preises – vorausgesetzt, man besitzt eine Legi oder ist Club-Jung-Mitglied.
Für 15 Franken in die Oper
Nun endlich befinden auch wir uns an der Kasse und weisen unsere Club-Jung-Mitgliedskarten vor.
16- bis 26-Jährige erhalten gegen die einmalige Zahlung von 20 Franken eine Mitgliedschaft. Die Vorteile sind divers: kostenlose Teilnahme an Workshops, Probenbesuche, Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Einblicke hinter die Kulissen. Zusätzlich zahlen Club-Jung-Mitglieder nur 15 Franken für Last-Minute-Karten, Legi-Besitzende hingegen 20.
Für ausgewählte Vorstellungen haben Club-Jung-Mitglieder auch online die Gelegenheit, Tickets zum Schnäppchenpreis zu ergattern. Wie gross das Kontingent ist, kann Julika Weinecker, Presseverantwortliche des Opernhauses Zürich, nicht genau beziffern, aber: «Die Kontingente decken die bestehende Nachfrage und können in den guten Preiskategorien angeboten werden.»
In unserem Fall hat sich das Anstehen gelohnt. Die Oper dürfen wir in der dritten Reihe geniessen, auf Plätzen, die regulär 320 Franken kosten. Ein Blick über die Schultern zeigt jedoch: Je höher der Balkon und je billiger die Plätze, desto jünger die Gesichter und unauffälliger die Kleidung. Um uns herum sind noch mindestens fünf Plätze frei, die oberen Ränge hingegen sind voll. Das liegt nicht zuletzt am inoffiziellen Dresscode. Wer elegant gekleidet an den Last-Minute-Schalter tritt, erhöht seine Chancen auf ein Billet auf dem Parkett.
Meist nur schlechte Plätze
Ein wenig erschöpft von den ersten anderthalb Stunden Wagner gehen wir in die Pause. Bis jetzt bot uns die Inszenierung den Erbfolgestreit des Herzogs von Brabant, Lederhosen, und wir sahen, wie ein Schwan dem Protagonisten Lohengrin als Transportmittel diente. Nun bahnen wir uns den Weg durch ein Meer aus grauen Köpfen, um auf der Terrasse nach Luft zu schnappen. Ein Gymischüler in Anzug und Fliege erklärt uns, dass er es als Club-Jung-Mitglied bis jetzt nur einmal geschafft hat, gute Tickets im Online-Vorverkauf zu bekommen. Er beklagt sich darüber, dass das kleine Kontingent so rasch ausverkauft sei. «Gibt es noch Karten, sind dies meist schlechte Plätze.» Er versuche sein Glück jeweils lieber am Schalter.
Die Website des
Opernhauses bestätigt seine Aussage. Für die ausgewählten Vorstellungen gibt es tatsächlich entweder gar keine oder schlechte Plätze. Vergleicht man Saalpläne der Vollzahler und Club-Jung-Mitglieder, wird klar, warum es so schwierig ist, günstig an gute Plätze zu kommen. Denn auch Vollzahler können die Plätze kaufen, die für Club-Jung-Mitglieder «reserviert» sind. Noch glücklicher über unsere tollen Plätze, kehren wir zu «Lohengrin» zurück, als die Glocke erklingt.
Den offiziellen Zahlen nach zu urteilen, besteht kein Nachwuchsproblem. 2010 steigerte sich die Anzahl der Zuschauer unter 35 Jahren um 50 Prozent. Aktuell umfasst der Club Jung 650 Mitglieder. Gespannt, wie viele von ihnen sich unter den heutigen Gästen tummeln, führen wir unsere Umfrage in der zweiten Pause fort.
Junges Publikum ist unzufrieden
Es zeigt sich: Kaum jemand von den jungen Anwesenden hat je vom Club Jung gehört. Liegt das nun am fehlenden Interesse der Jugend oder an mangelnder Initiative des Opernhauses? Laut Julika Weinecker gibt es zahlreiche Kooperationen mit Universitäten und anderen Kultureinrichtungen, um ein jüngeres Publikum zu erreichen. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Jung und Alt zu schaffen, ist also ein Anliegen des Opernhauses. Die junge Generation scheint jedoch unzufrieden. Ein Musikstudent meint, er finde es schade, dass es für Junge nur unbequeme Wege gibt, an erschwingliche Tickets zu kommen. Das Opernhaus solle bessere Konzepte für diese Besuchergruppe entwickeln, denn für Studierende sei es eine Frage des Geldes. «Eine Stunde lang in der Schlange zu stehen, ist nicht cool.»
Julika Weinecker erklärt uns: Da das Angebot für junge Leute ausgesprochen günstig ist, bietet man es nur bei ausgewählten Vorstellungen an. Zudem habe sich das bestehende Konzept bewährt und werde geschätzt. Deshalb gebe es keine Überlegungen, etwas daran zu ändern.
Älteres Publikum scheint begeistert
Endlich, das Finale der Oper, ein kurzer Schauer läuft uns den Rücken hinunter. Das ältere Publikum vor uns scheint begeistert. Ein älterer Herr zückt verbotenerweise sogar seine Kamera, um den Moment zu verewigen. Mit gemischten Gefühlen verlassen wir nach viereinhalb Stunden die Oper. Um die Eindrücke zu verarbeiten, machen wir uns auf den Weg in die Bar Odéon. Andere haben dieselbe Idee. Wir treffen auf den Musikstudenten und seine Kollegen, unter ihnen ein Cellist des Opernhausorchesters. Wir können nur darüber mutmassen, wie die älteren Besucherinnen und Besucher ihren
Abend ausklingen lassen.
Insgesamt war das Publikum älter; nur wenige meisterten die Treppen des Opernhauses, ohne eine Verschnaufpause einlegen zu müssen. Klassische Musik scheint in unserer Generation nur das Interesse Weniger zu sein. Jedenfalls zurzeit noch. Denn auch die rockigsten Woodstock-Gänger finden mit dem Alter Gefallen an Wagner, Mozart und Puccini. Die Vergangenheit zeigt, dass sich die Oper keine Sorgen um ihre Zukunft machen muss. ◊