ZFF

Totonel und seine Schwestern

Eine bewegende Dokumentation über Armut, Drogen und eine verlorene Kindheit in Rumänien.

6. Oktober 2014

Alexander Nanau, der Regisseur des Dokumentarfilms «Toto si surorile lui» (zu Deutsch: «Totonel und seine Schwestern»), steht geduldig vor dem Kinopublikum und beantwortet Fragen. Es ist seine dritte filmische Dokumentation und es ist ihm anzumerken, dass es keine einfache Geschichte war. Seine beiden anderen Dokumentationen handeln von Kunst, diese handelt von drei Roma-Kindern, die am Rande von Bukarest wohnen und ganz auf sich allein gestellt sind. «Keine Angst, der Film wird nicht zu bitter sein», verspricht Nanau zu Beginn, ein Versprechen, dass er nicht ganz halten kann.

Totonel ist ein niedlicher 10-jähriger Junge mit dunklen Haaren und verträumten Augen. Er scheint in seiner eigenen Welt zu leben und nicht viel von seiner Umgebung wahrzunehmen. Oft sieht der Zuschauer ihn auf dem grossen Sofa schlafen, das das einzige taugliche Möbelstück in der Wohnung ist und von den Kindern auch gerne Bett genannt wird. Totonel wohnt am Rande von Bukarest, Rumänien, zusammen mit seinen Schwestern Andreea, 14 und Ana, 17. Zu Beginn putzen die beiden Mädchen das Haus, während Totonel draussen mit seinen Freunden spielt. Heute ist der Tag an dem ihre Mutter aus dem Gefängnis entlassen werden soll, nachdem sie beim Drogendealen erwischt wurde.

Hunger und Drogen

Die Drogen sind auch für die Kinder zum Greifen nah. Man sieht Totonel einige Male neben jungen Männern sitzen, die sich auf dem Sofa Drogen spritzen. Die Wohnung ist zum Fixer-Quartier mutiert. Andreea schläft deshalb oft bei ihren Freundinnen, während Ana selber in den Drogensumpf rutscht und nach einer Razzia einige Tage im Gefängnis verbringen muss. Das meiste Geld geben die Männer und Ana für Drogen aus, für Essen bleibt kaum etwas übrig. Essen sieht man die Kinder selten, kochen ist schwierig, denn der selbstgebastelte Kochherd sieht nicht aus, als würde er etwas taugen.

Die Kinder gehen nicht in eine Schule, sie besuchen den Club. Dort werden sie ihrer Stufe gerecht unterrichtet. Totonel erscheint oft zu spät, Andreea kommt manchmal gar nicht und Ana hat die Schule schon länger hingeschmissen. Die Bildung der Kinder ist viel zu schlecht für ihr Alter. Lesen, schreiben, rechnen, all das sagt ihnen nichts. Die meiste Zeit gammeln sie in der Wohnung herum, spielen auf der Strasse, oft sieht man sie streiten und weinen. Das Filmteam hält die intimsten Momente fest, die Kinder bewegen sich sehr natürlich vor der Kamera und Nanau sagt: «Wir haben nie eingegriffen, auch wenn es sehr hart mit anzusehen war.»

Eine verlorene Kindheit

Totonel bekommt zum Glück noch nicht viel mit von seiner misslichen Lage. Im Club hat er das Tanzen entdeckt, eine Leidenschaft, die ihn voll und ganz mitreisst. Ana lässt sich nicht mehr oft vor der Kamera blicken, sie hat den Bezug zur Realität aufgrund des Heroins schon länger verloren. Ihre Hauptsorge ist das Heranschaffen von Geld, damit sie Drogen kaufen kann. Andreea scheint am meisten zu leiden, sie ist genug alt um zu verstehen, was um sie herum geschieht und klug genug, es ihrer älteren Schwester und Mutter nicht nach zu ahmen. Sie versucht sich um ihren Bruder zu kümmern, überredet ihre Schwester zum Entzug, besucht ihre Mutter im Gefängnis. Sie gesteht: «Ich bin unglücklich».

Aus Verzweiflung nimmt sie Totonel mit zu einem Waisenhaus. Dort bleiben sie, weil Andreea es in der Drogenhöhle ihrer Schwester nicht mehr aushält. Die Kinder bekommen anständige Mahlzeiten, werden regelmässig zum Unterricht geschickt. Totonel gewinnt sogar den zweiten Platz bei einem Hip Hop-Tanzwettbewerb. Jeder ist überrascht, wie gut sich dieser kleine verträumte Junge bewegen kann. Man sieht Andreea und Totonel oft lachen.

Kein Happy-End

Nach einigen Jahren darf die Mutter das Gefängnis verlassen. Andreea und Totonel holen sie mit dem Zug ab, doch die Stimmung ist gereizt. Andreea erklärt ihrer Mutter, dass sie sich eine Arbeit suchen müsse, ansonsten dürfen die Kinder das Waisenhaus nicht verlassen. Totonel ignoriert seine Mutter, er sagt, dass er sie nicht mehr liebe. Die Familie wird nicht wieder vereint, wie es sich der Zuschauer erhofft. «Was ist aus der Familie geworden?», fragt eine Stimme aus dem Publikum. Nanau erzählt: Totonel ist nicht mehr zu seiner Mutter zurückgekehrt, er ist im Waisenhaus geblieben, besucht die Schule und tanzt noch immer. Andreea hat sich eine eigene Wohnung gesucht, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, hält sich aber von den Drogen fern. Ana sitzt im Gefängnis, sie ist HIV-Positiv, das Gefängnis scheint für sie der beste Ort zu sein.

«Der Film soll zeigen, wie sich Menschen entwickeln, denen nicht ein einfaches und gutes Leben geschenkt wurde. Es zeigt, dass jeder für seine Taten selbst verantwortlich ist, egal wie gross sein Schicksal ist», erklärt Alexander Nanau. Der Film wirkt, unsere Probleme scheinen plötzlich klein. Das verträumte Gesicht des kleinen Totonels, der zwischen Spritzen und Drogen schläft, wird man so schnell nicht wieder vergessen.