ZFF

Ballet 422

Eine Dokumentation von Jody Lee Lipes

29. September 2014

Das 422. Ballett des NYC Ballets ist das erste Ballett in 65 Jahre Geschichte, das komplett dokumentiert wurde. Noch nie zuvor wurde der gesamte Prozess einer Entstehung eines neuen Stücks gefilmt und der Regisseur Jody Lee Lipes hat diese Chance wohl auch nur bekommen, weil seine Frau beim Ballett arbeitet. Umso wundervoller ist es, dass es ihm gelungen ist, eine eindrückliche und vielfältige Dokumentation zu schaffen über die Geburt und Entwicklung von einem neuen Stück, was mit so viel Arbeit und Aufwand verbunden ist, dass es schwierig erscheint diese Komplexität auf die Leinwand bringen zu können.Zu Beginn des Films wird eine Balletttruppe gezeigt, wobei die Kamera scheinbar zufällig an einem Tänzer hängen bleibt. Es handelt sich um den 25-Jährigen Justin Peck, der die Rolle des Choreografen übernehmen darf und zwei Monate Zeit hat ein gesamtes Stück zu kreieren.

Pas de Deux

Es ist sehr faszinierend zu sehen, wie die Entstehung dieses neuen Stücks erfolgt. Jedes Detail muss stimmen, selbst jede Position der Finger wird korrigiert. Das Blau des Kostüms tanzt ein harmonischer Pas de Deux mit exakt demselben Blau des Bühnenbilds. Jede kleinste Überlegung macht plötzlich Sinn und alles fügt sich zusammen. Und der Film lässt nichts aus. Von Justins ersten Ideen auf Skizzen in Notizblöcken, vom Handyfilm seiner eigenen Schritte, zu den ersten Proben und dem Training seiner Tänzer, der Kostümentwurf und die Herstellung der Kleider, das Licht, welches für jede Sekunde und jeden Scheinwerfer festgelegt werden muss, jeder Musikton das hauseigenen Orchester eingeübt wird und schliesslich die Bühnenproben und die beklatschte Premiere.

Der Film streicht auch die Rolle des Choreografen als wichtige Person für ein Stück heraus. Wenn nicht sogar die wichtigste. Er entwickelt weit mehr als nur die Schritte und Figuren, er ist sozusagen der alleinige kreative Kopf der ganzen Produktion. Bei jeder Entscheidung ist er dabei, sei es von der Stoffauswahl zur jeder einzelnen Position der Lichter. Er segnet alles ab, bei ihm läuft alles zusammen. Dies zeigt sich auch dadurch, dass er in diesen zwei Monaten voll und ganz nur für sein Stück lebt. Er kommt spät abends nach Hause und setzt sich gleich an den Computer, um sich auf Videos die Proben nochmals anzusehen. Proben, bei denen die Tänzer unablässig dieselbe Schritte und Figuren üben. Jeder Schritt muss perfekt sitzen, und wird im Zweifelsfall in letzter Minute noch abgeändert, damit alles stimmig ist.

Harte Schnitte

Zur Kameraarbeit von Ballet 422 ist zu sagen, dass sie mit vielen harten Schnitten eher unspektakulär ist, was aber auch verständlich ist, denn es bestand schlichtweg die Möglichkeit nicht ein grosses Set zu haben mit viel Bewegungsfreiheit in den engen Proberäumen und die Tänzer wollten schliesslich nicht das Risiko in Kauf nehmen, verletzt zu werden, wenn sie irgendwo rein tanzen. So wurde nur eine Kamera verwendet, ausser bei der Premiere ganz zu Schluss, wo es darum ging Justins Gesicht in einer Nahaufnahme einzufangen und seine Reaktion zu zeigen. Der Vorteil der einzigen Kamera ist jedoch auch, dass sie sehr flexibel ist und sie daher oft Justin folgt. Sei es Backstage zum Bühneneingang oder durch die Strassen New Yorks.

Der Zuschauer erhält aber auch manchmal die Sicht, wie der Zuschauer im Film selber die Bühne und die Tänzer sieht und sogar mal aus der Vogelperspektive, was das gesamte Corps de Ballet in ihrem abgestimmten Miteinander sehr schön auffasst. Auch hat es einzelne subjektivierende Einstellungen, wie die Tänzer beispielsweise die Bühne wahrnehmen, kurz bevor sie rausgehen, was oft nicht anderes ist als tiefschwarze Nacht mit einzelnen Lichtkegeln.

Knochenjob

Eindrücklich ist auch der Flashback kurz vor Premierenbeginn, der Justins gesamte Arbeit der letzten acht Wochen nochmals in Schnelldurchlauf zeigt. Es wird dem Zuschauer klargemacht, was alles dahinter steckt, damit so eine Aufführung überhaupt zustande kommen kann. Und es wird auch das Herzblut sichtbar, was Justin darin investiert hat. Echtes Blut sah man hingegen nie. Auch wenn der Job des Tänzers einen Knochenjob war, blieben die harten Seiten des Business nicht dargestellt.

Bei einem Dokumentarfilm stellt sich auch immer die Frage nach dem Realitätsanspruch. Jody Lee Lipes stellte im Interview nach der Vorführung von Ballet 422 am Zürcher Filmfestival klar, dass es keine Aufnahme gab, die er nicht zeigen durfte. Die Auswahl der Einstellungen ist jedoch immer schon eine gewisse Lenkung der Wahrnehmung.

Was vielleicht etwas gefehlt hat, war die Darstellung des ganzen Stress und des Druckes, dem Justin bestimmt ausgesetzt gewesen war und der mit seiner Arbeit einhergeht. Es wird keine Verzweiflung gezeigt, kein blockierte kreative Ader. Und die Tänzer reissen selbst dann noch Witze, nachdem sie zur nicht mehr zählbaren Wiederholung ansetzen. Nur einmal sieht man kurz mit Blasen übersäte Zehen in Spitzenschuhen und einmal kurz die Arbeit einer Physiotherapeutin. Gelitten wurde jedoch wohl weitaus mehr.

Countdown

Das Einzige, was die unaufhörlich fortschreitende Zeit verdeutlichte, waren die wenigen Zwischentitel des Films. Zwei Monate zur Premiere. Zwei Wochen zur Premiere. Einen Tag. Es läuft aber alles nach Plan. Der Fokus liegt auf der Entstehung von Kunst und dies wird mit dem Einblick in die vielfältigen Arbeitsprozessen, die hinter einem perfekten Auftritt stecken, sehr schön umgesetzt in Ballet 422. Und genau dies mag auch für diejenigen sehenswert sein, die eine Arabeske nicht von einem Foutté und eine Pique-Pirouette nicht von einem Soutenue unterscheiden können. Der Film ist also auch für nicht Ballett-Ratten absolut empfehlenswert.

Überall, wo Kultur erschaffen wird, spielen so viele Faktoren zusammen und jedes Detail muss stimmen, so dass Ballet 422 auch als eine Hommage aufgefasst werden kann an das Kunstschaffen in seiner Einzigartigkeit.

Auch wenn der dafür geerntete Erfolg nur wenige Applaussekunden anhält und Justin anschliessend gleich seinen schicken Anzug gegen ein Trikot tauschen muss, weil er nach der Premiere in einem anderen Ballett als Tänzer auf der Bühne stehen muss. Etwas, was der Regisseur sehr überrascht und beeindruckt hatte, als er dies hörte. So gefällt ihm das Ende des Films besonders gut, weil es klarmacht, dass einzig und allein die Leidenschaft den Antrieb darstellt für die ganze harte Arbeit. Dass Justin nach seiner erfolgreichen Premiere von Paz de la Jolla seinen Erfolg gar nicht geniessen kann, sondern gleich zurück zur Arbeit muss. Er tanzt im dritten Ballett des Abends. Sein Stück, das er choreografiert hat, war das erste gewesen. Oder das 422.