11:23 – 9:59 (Projekt Angst)
Das Alpen-Réduit kennen wohl die meisten Menschen der Nachkriegszeit gerade mal als irgendeine komische Anlage irgendwo in den Bergen, die irgendwie etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat(te). Im Horrorfilm 11:23 – 9:59 (Projekt Angst) wagen sich fünf deutsche Schauspielstudenten und ein Schweizer Abenteurer in das Tunnelsystem von 1939; keiner von ihnen überlebt.
Mit dieser düsteren Ankündigung beginnt der Film von Luca Ribler, doch sie lässt viel Schlimmeres erwarten, als was den Zuschauer schlussendlich erwartet. Man reist mit fünf Theater-Studenten aus Deutschland in die Schweizer Berge; obligatorisch sind dabei die «Ahs» und »Ohs», die sie ausstossen, als sie das erste Mal einen malerischen See vor der Alpenkulisse erblicken.
Es wird viel Wert darauf gelegt, die Unbeschwertheit der unschuldigen, wagemutigen Jugend der Protagonisten darzustellen, alles festgehalten mit der Kamera von Finn (Frederic Soltow), die blonde Esther (Lene Dax) sticht bereits als etwas ruhiger, zurückhaltender und unsicherer hervor. Nach einer beschwerlichen Wanderung (man ist vom Wanderweg abgekommen) finden die Freunde den Eingang zum legendären Alpenréduit, bei dem sie ihren Schweizer Freund Manu treffen sollen, und dessen tonnenschwere Betontür plötzlich aufgeht. Ein buckliger Alter, der irgendwie nicht sprechen kann, tritt heraus, nach langem Hin und Her folgen die Abenteurer ihm in den Bunker und staunen über die Dunkelheit, die Feuchtigkeit, etc. Etwas mulmig wird ihnen schon, als «Öbi» beginnt, die Türen, durch die sie gehen, hinter sich zu verschliessen, aber Jamal (Yasin El Harrouk) verspricht den kreischenden Mädchen, dass das sicher alles Manus (Andreas Ricci) Idee war und er ihnen nur ein bisschen Angst einjagen will, und sowieso hat man schon gemerkt, dass es hier keinen Handyempfang gibt. Nachdem der geheimnisvolle Führer sich verabschiedet hat, kommt es dann erstmals zu einem Stromausfall, glücklicherweise klingelt dann ein nahes Telefon, man glaubt, Manu habe endlich Kontakt zu ihnen aufgenommen. Man findet sich in der Küche, wo es ausser einem Glas Essiggurken nicht wirklich viel gibt, Sophie (Sheila Eckhardt) findet, man solle sich jetzt auf die Mutproben konzentrieren, anstatt die anderen Gruppenmitglieder zu verarschen, worauf Manu künstlerisch Ketchup zu kotzen beginnt.
Banale Mutproben
Die Mutproben, von denen dann jeder eine durchziehen muss, sind etwas gar banal konzipiert; Sophie hat Höhenangst und muss über ein metertiefes Loch kraxeln, Esther hat Angst im Dunkeln und muss einen Gang ohne Licht durchqueren; ob es da bereits ihre vom Teufel besessene Seele ist, die sie das durchhalten lässt oder ob das zu ihrer Show gehört, man weiss es nicht. Nachdem auch Manu, der panische Angst davor hat, schmutzig zu sein, über sich hinaus gewachsen ist, indem er sich einen Eimer Schweineblut über den nackten Körper geschüttet hat, daraufhin aber ausrastet, weil die Duschen überraschenderweise nicht funktionieren, kippt das Klima in der Gruppe; Sophie misstraut ihm, woraufhin er abhaut, gefolgt von Cosima (Carmen Witt), und Jamal will dann auch nicht mehr mit ihr diskutieren. Als nächster ist er an der Reihe; als Klaustrophobiker ist es eine Qual für ihn, zehn Minuten in einem engen Schacht auszuharren, weshalb er sich auch lieber selbst mit dem Handy filmt. Als er den Schacht wieder verlassen kann, ist er ein anderer, ihm wird klar, dass die Beziehung zu Sophie der eigentlich enge Raum ist, aber das Augenmerk richtet sich dann bald wieder auf Esther, die schlafwandelt, und zwar zu einem mit schwarzen Kieselsteinen auf den Boden gemalten Kreuz, über dem ein Teddybär grausam erhängt wurde.
Jamal rastet aus, man beschliesst, ihn an ein Bett zu fesseln und die letzten Stunden irgendwie zu überleben; am Eingang, wo Öbi, der, wie sich herausstellt, eigentlich Manfred heisst, sie «am achti» empfangen sollte, finden sie sich dann aber etwas zu spät ein, und die verzweifelten Jugendlichen begeben sich noch einmal zurück in den Bunker, um Jamal zu suchen, man findet seine Kleider vor einem der Schächte, in den man ihn zur Mutprobe gesperrt hatte. Die Freunde folgen der Spur, Finns Kamera setzt immer öfter aus, als Erste sieht man Sophie, die sich ebenfalls ausgezogen hat, und nach einem müden Abschiedslächeln an Esther in eine unbekannte Tiefe springt, das dumpfe Geräusch nach einigen Sekunden lässt auf einen schnellen und schmerzlosen Tod schliessen, etwas weiter den Gang entlang küsst Cosima Manus leblosen Körper, bevor sie selbst aus unerfindlichen Gründen verendet. Esther schlussendlich verkriecht sich in eine Ecke, und Finn, der doch schon immer etwas für sie übrig hatte, gesellt sich zu ihr, um ebenfalls zu sterben; Esther wehrt sich erst noch, als Finn aber tot ist rappelt sie sich ein letztes Mal auf, schnappt sich die Kamera und bahnt sich ihren Weg in die Freiheit, sie findet den Ausgang, die Tür öffnet sich auf noch geheimnisvollere Weise als beim Eintreten in den Bunker, es hat geschneit in der Aussenwelt, und nach einigen Minuten, in denen nur das beruhigende Geräusch von Esthers Stiefeln im Schnee zu hören und das schöne Alpenpanorama zu sehen ist, verabschiedet sie sich, eingegraben in den Pulverschnee, vom Leben, mit den letzten Worten an ihren Vater, sie werde nun nie mehr Böses tun können.
Verzweifelte Sinnlosigkeit
Die grundsätzlich interessante Idee der Auseinandersetzung mit der eigenen Angst wird in dem Spielfilm von Luca Ribler mit überzeugenden Mitteln wie der dokumentarischen Aufnahmemethode und mutiger Aktionen der Schauspieler zwar ansatzweise umgesetzt, verliert aber vieles an Überzeugungskraft und Intensität durch die Überspitztheit des Spiels, das an mehreren Stellen unauthentisch wirkt. Durchaus gelungen und konsistent sind die Charaktere und ihre Stärken und Schwächen sowie das dem Geschehen zugrundeliegende Skript; als störend könnte man empfinden, wie die eigentlich glaubhafte Geschichte im Tod jeder Figur enden muss, wenn das auch ein gängiges Mittel des Horror-Film-Genres ist, dem der Film angehört. Details wie der die zerbrechliche Esther stets verfolgende Tod ihrer Schwester, an dem ihre Eltern ihr die Schuld gaben, werden leider nicht geklärt, was dem Gesamtbild aber keinen Schaden tut. 11:23-9:59 (Projekt Angst) ist ein mehr oder weniger gelungenes Experiment junger Schauspieler in einer unvergleichlichen Umgebung, die sich für das Genre perfekt eignet, dessen ursprünglich vom Zuschauer erhoffter Sinn aber in verzweifelte Sinnlosigkeit übergeht, welche nur schwer nachvollziehbar ist, die Stimmung aber durchaus dorthin lotst, wo sie wohl sein sollte nach einem Film wie diesem: irgendwo unter tonnenweise Beton und Schnee.