Geflasht vom Lernstoff? Hannah Raschle

Das ganz alltägliche Doping

Wenn Kopf und Körper nicht genug leisten, helfen Zürcher Studierende gerne nach.

18. September 2014

Zwei grosse Kaffees am Morgen, in der Pause das Vitaminpräparat mit Red Bull runterspülen, zwischendurch ein Stück Schoggi für die Motivation. Wer kennt das nicht? Die meisten unserer Lernhilfen sind gesellschaftlich akzeptiert und legal. Anders steht es um Neuro-Enhancer – also Medikamente, welche für Personen mit Lernschwäche entwickelt wurden, aber von gesunden Individuen zur kognitiven Leistungssteigerung missbraucht werden. Jede und jeder Siebte an der Uni hat schon gedopt, sei es mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, Drogen oder Alkohol, wie die Studie «To Dope or Not to Dope» des Schweizer Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) nachgewiesen hat.

Methylphenidat heisst der Wirkstoff, der in Medikamenten gegen Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) enthalten ist. Zum Beispiel in Ritalin, dem Star unter den Neuro-Enhancern. Ritalin löst in jedem Hirn dasselbe aus. Doch wie der Körper des Einzelnen darauf reagiert, ist individuell.

Studentische Experimente

Marc* hat von Ritalin profitiert. Vor seinen Masterprüfungen nahm er während zwei Wochen täglich zwei Tabletten. «Ich habe Ritalin bewusst vor meinen letzten Prüfungen ausprobiert, weil ich wusste, dass dank meiner früheren Leistungen nicht mehr viel passieren kann.» Die Prüfungen hat der Jurist ohne Ritalin geschrieben, einzig vor einer mündlichen Klausur nahm er eine Pille. Neugierde, aber auch die knappe Vorbereitungszeit nennt Marc als Gründe. «Sonst habe ich jeweils einen Monat lang gelernt, mit Ritalin reichten zwei Wochen.»

Von Neuro-Enhancern profitieren in erster Linie Personen mit «niedriger intellektueller Basisleistung», erklärt Larissa Maier, Doktorandin und Autorin der ISGF-Studie. Die Basisleistung schliesst die Konzentrationsfähigkeit, die Schlafmenge, den IQ und die Unterstützung durch das persönliche Umfeld mit ein. Umgekehrt werden Studierende, die üblicherweise konzentriert lernen, nach dem Konsum von Ritalin nervös und sind schnell abgelenkt. Weshalb wirkt der zusätzliche Stoff bei manchen negativ? «Ein fittes Hirn kann seine Leistung nicht künstlich steigern. Es ist möglich, dass die zusätzliche Stimulation zu einer Überreizung führt», weiss Maier.

Wieso behaupten dann Studierende, welche offiziell kein ADHS haben, dass sie mit Ritalin besser lernen? «Es ist möglich, dass Personen mit undiagnostiziertem ADHS von der Wirkung profitieren.» Ritalinkonsum als Selbst-Medikation also.

Marc erzählt im Gespräch beiläufig: «Bei mir wurde als Kind ADHS diagnostiziert. Meine Eltern haben sich aber gegen eine Therapie entschieden und sind mit mir öfter in die Natur. Das hat gewirkt.» Damit könnte der positive Effekt bei Marc auf eine latente Konzentrationsschwäche zurückzuführen sein, auch wenn der Jurist sagt, er habe kaum Probleme beim Lernen. Eine andere Möglichkeit ist, dass wir uns selbst austricksen. Wir glauben an den Nutzen und können uns deshalb besser konzentrieren – eine Art Placebo-Effekt.

Schwitzige Hände und Schlaflosigkeit

Zurzeit wird erforscht, ob Neuro-Enhancer unser Kurzzeitgedächtnis verbessern. Erwiesen ist erst der negative Effekt: Das Langzeitgedächtnis und die Fähigkeit zur Verknüpfung von Informationen werden beeinträchtigt. Für einfache Abfrage-Prüfungen sind sie also eher von Nutzen als für komplexe Anwendungsaufgaben. Sandra* hat dies festgestellt, als sie sich mit Ritalin auf die Jusprüfungen vorbereitete: «Ich hatte das Gefühl, weniger vernetzt denken zu können.» Der einzige Vorteil aus ihrer Sicht: «Man hält mit Ritalin bei einem Lernmarathon länger durch.» Doch auch die Nebenwirkungen sind nicht ohne. Sandra wurde nervös, sie hatte schwitzige Hände und Mühe, sich zu konzentrieren.

Auch Schlaflosigkeit ist üblich. Deshalb nehmen manche Konsumierende abends ein Beruhigungsmittel, um wieder runterzukommen. Den Organismus derart künstlich zu steuern, wird schnell gefährlich. «Auf Dauer macht der Körper das nicht mit, ausserdem besteht die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit», erklärt Maier. Denn wer glaubt, nur mit Ritalin gut zu lernen, verliert das Vertrauen in die eigene Leistung. Das physische Suchtpotential kommt bei Langzeitkonsum dazu, auch wenn die Absetzung von Ritalin bei ADHS-Patienten üblicherweise problemlos abläuft.

A-Student

Am stärksten ist der Dopingtrend im Studium in den USA. Studien zufolge greifen bis zu einem Viertel der Studierenden zu Neuro-Enhancern. Der Begriff A-Student hat damit eine neue Bedeutung bekommen: vom Musterstudi zum Amphetamin-User. Auch die Dopingzahlen der Schweizer Unis klingen alarmierend. Jede/r Siebte hat schon Neuro-Enhancer probiert. Studierende, die vor Prüfungen täglich Ritalin schlucken, gibt es laut der Schweizer Studie nur wenige. Doch Tatsache ist: Die Bezüge haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Damit wird das Medikament unter der Hand günstiger. Auf dem Uni-Schwarzmarkt bekommt man eine Pille für zwei Franken.

Wer Ritalin verschrieben bekommt und es verkauft, macht sich strafbar. Der Besitz ist aber legal. Zudem stört sich das Universitätsgesetz nicht an der chemischen Leistungsverbesserung – ein Artikel dazu fehlt. Entsprechend sind auch Dopingkontrollen vor Prüfungen kein Thema, wie Beat Müller, Mediensprecher der Uni Zürich, bestätigt.

Ritalin als Wunderwaffe?

Doch ist Hirndoping nicht unfair gegenüber den Kommilitonen? Nein, sagt Biomedizinethiker Markus Christen: «Die Mittel, welche heute unter den Begriff Hirndoping fallen, haben kaum stärkere Effekte als Kaffee, und der ist schliesslich gesellschaftlich akzeptiert.» Wenn ein Mittel gefunden würde, welches die Leistung deutlich steigern könnte, müsse man die Frage neu stellen, findet Christen. Sandra sagt, sie verstehe, warum einige den Ritalinkonsum für unfair halten, schränkt aber ein: «Erstens ist Ritalin keine Wunderwaffe, welche dem Studierenden das Lernen abnimmt. Und zweitens kann sich jeder, der es möchte, Zugang dazu verschaffen.»

Sie selbst hat die Pillen von Freunden bekommen – in Maiers Studie die meistgenannte Quelle. Die Jusstudentin erzählt: «Mein Freundeskreis ist recht experimentierfreudig und Einzelne schlucken in jeder Lernphase etwas.» Sie selbst studiert wieder, ohne zu dopen. Auch Marc sagt trotz der positiven Erfahrung, er würde Neuro-Enhancer nicht mehr zur Prüfungsvorbereitung nehmen: «Im Grunde bin ich der Meinung, dass man nur so viel leisten soll, wie natürlich möglich ist.» Wenn man sich künstlich pushen müsse, um Bestresultate zu erzielen, sei das ein Fehler unseres Systems: «Ritalin ist ein Ausdruck der Problematik unserer heutigen Leistungsgesellschaft.»

Wie kann man der Verlockung des Ritalins widerstehen, trotz knapper Zeit und steigendem Druck? Maiers wichtigster Tipp klingt banal, trägt aber ein Forschungsgütesiegel: «Der beste Neuro-Enhancer ist Schlaf. Wer den Lernstoff gut einteilt und sich genügend Zeit für Schlaf nimmt, gibt dem Hirn die Möglichkeit, das Gelernte zu speichern.» ◊