Sebastian Egenhofer ist Professor für moderne und zeitgenössische Kunst.

Physiker trifft Kunsthistoriker

Drei Professoren diskutieren darüber, wohin sich die Forschung bewegt – und was Wissenschaft überhaupt ist.

5. Mai 2014

Herr Egenhofer, Sie sind Professor für Kunstgeschichte. Herr Osterwalder ist Physikprofessor. Was, glauben Sie, kann er, was Sie nicht können?

Egenhofer: (überlegt lange)

Osterwalder: Soll ich rausgehen?

Egenhofer: Der Arbeitsbereich eines Physikprofessors ist für mich ein Buch, vielleicht nicht mit sieben, aber einigen Siegeln. Wir haben eine andere Ausbildung gemacht und uns unterschiedliches Wissen angeeignet. Aber ich würde hier nicht auf eine persönliche Ebene gehen und sagen, wir haben andere Talente.

Sie sagen, Sie haben sich unterschiedliches Wissen angeeignet. Sind Sie manchmal neidisch, dass Herr Osterwalder seine Forschung mit Zahlen belegen kann und Sie nicht?

Egenhofer: Nein, das sind einfach andere Wissenschaftskulturen und -traditionen. Es ist für mich kein Problem, dass geisteswissenschaftliche Forschung nicht formalisierbar ist wie Mathematik.

Professor Osterwalder, welche Schlagworte kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Geisteswissenschaften denken?

Osterwalder: Büroarbeit ... (überlegt) Bücher, Statistiken. Brauchen Sie mehr?

Wenn ich an einen Physiker denke, stelle ich mir ein Labor vor. Was für ein Stereotyp verbinden Sie mit einem Kunsthistoriker?

Osterwalder: Eigentlich keines. Historiker faszinieren mich generell, weil sie einen Überblick über die Zeitachse haben und Geschehnisse darin einordnen können.

Herr Egenhofer. Was ist Ihr Stereotyp von einem Physiker?

Egenhofer: Ich versuche, nicht in Stereotypen zu denken. Aber bei einem Physiker kommt mir die Idee eines mathematischen Gehirns in den Sinn, das in die Materie eindringt. Vielleicht ist das mein Klischee.

Herr Hagner, gehen Sie mit uns einig, Egenhofer ist ein Intellektueller, Osterwalder ein Forscher?

Hagner: Wissenschaft ohne Forschung gibt es nicht. Insofern sind beide Forscher, aber ob beide Intellektuelle sind, weiss ich nicht. Ich kenne nur Herrn Egenhofer und er ist beides.

Was ist denn ein Intellektueller für Sie?

Hagner: Eine gebildete Person, die sich ungefragt in gegenwärtige Diskussionen über Kunst, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft einmischt. Das ist der Unterschied zu Experten. Die äussern sich nur, wenn sie gefragt werden.

Herr Egenhofer, warum sind Sie Kunsthistoriker geworden?

Egenhofer: Das hat biografische Gründe. Es gibt keine Merkmale, die eine Person bei der Geburt zu einem Kunsthistoriker prädestinieren. Ich bin in einem Architekten-Haushalt aufgewachsen und mit Kunst gross geworden. Ich habe Philosophie und Kunstgeschichte studiert, aber ich habe mich für Zweiteres entschieden, weil es für mich eines der grössten Vergnügen ist, mich mit Kunst zu beschäftigen. Dabei hätte ich beinahe Physik studiert...

Warum nur beinahe?

Egenhofer: Das weiss ich nicht mehr genau, aber in der Oberstufe war ich gut in Physik. Ich habe gemerkt, dass ich nicht eine bestimmte Denkart, sondern die Mathematik brauche, um das zu verstehen. Das fand ich faszinierend. Ich weiss noch, wie ich dachte: Gäbe es die Philosophie nicht, würde ich Physik studieren.

Herr Osterwalder, wie fanden Sie zur Physik?

Osterwalder: Ich komme aus einem nicht akademischen Elternhaus. In der Primarschule wollte ich Archäologe werden, weil ich viel Karl May gelesen hatte. Aber dann hatten wir einen langweiligen Geschichtslehrer und ich verlor mein Interesse. Da ich in der Mittelschule einen motivierenden Physiklehrer hatte, wollte ich nach der Matur mit Geophysik anfangen, aber dafür brauchte ich zuerst ein Fundament und studierte Physik. Da fühlte ich mich dann sehr wohl und wollte nicht mehr wechseln.

Wollten Sie etwas Bestimmtes herausfinden?

Osterwalder: Bei der Studienwahl nicht. Ich dachte einfach, wenn man Physik versteht, dann versteht man alles. Heute weiss ich, dass es nicht so ist.

Und Sie, Herr Hagner, wie sind Sie zur Wissenschaftsgeschichte gekommen?

Hagner: Ich habe Medizin studiert, weil ich mehr über das Gehirn wissen wollte. Nebenher habe ich noch Philosophie belegt, aber nie einen Abschluss gemacht. Nach dem Staatsexamen bin ich in die Hirnforschung gegangen, dann wechselte ich die Disziplin und begann mit Wissenschaftsgeschichte.

Sie sind einfach eines Morgens aufgewacht und fanden: Ich wechsle die Disziplin.

Hagner: (lacht) Nein. Ende der 1980er Jahre war die Wissenschaftsgeschichte die aufregendste Disziplin in den Geisteswissenschaften und ich hatte bereits meine Dissertation in diesem Bereich verfasst. Aus England und Amerika kamen neue Theorien, es war ein Gefühl des Aufbruchs. So etwas erlebt ein Wissenschaftler wahrscheinlich nur einmal im Leben. Also wagte ich den Sprung ins kalte Wasser und ging nach England. Aber ich bin meinen Interessen treu geblieben.

Dem Hirn?

Hagner: Ja, ich habe mich experimentell, philosophisch und historisch mit dem Hirn befasst und einige Bücher zur Geschichte der Hirnforschung geschrieben. Es beschäftigt mich noch immer, wie das Verständnis des modernen Hirns zustande gekommen ist.

Sie sind dem Thema treu geblieben, haben aber die Methode gewechselt. Was war da die grösste Herausforderung?

Hagner: Ob ich in der Lage bin, historisch zu denken. Das heisst, mich von der Aktualität zu lösen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass die Menschen in der Vergangenheit ganz anders gedacht haben als wir.

Sie alle sind Wissenschaftler. Doch was ist Wissenschaft überhaupt?

Hagner: Hm. Wissenschaft ist ein nach bestimmten Regeln systematisiertes und kanonisiertes Wissen, das nach vorne gerichtet ist, immer neue Forschungsfragen generiert und an gesellschaftlich anerkannten Institutionen wie Universitäten gelehrt wird.

Egenhofer: Ich muss nachdenken, ob mir da noch eine andere Definition einfällt. Es scheint wichtig, dass das Wissen nicht immer neu generiert wird, sondern auf einen Korpus zurückgreifen kann. Wissenschaft bewegt sich also an der Grenze zwischen offenen Problemfeldern und tradiertem Wissen.

Hagner (schaut zu Osterwalder): Als Letzter haben Sie es noch schwerer!

Osterwalder: Für mich ist Wissenschaft Forschung. Als Naturwissenschaftler heisst das, eine Frage an die Natur zu stellen und sich ein Experiment auszudenken, um dem Problem nachzugehen.

Egenhofer: Aber sie konstruieren ihre Wissenschaft ja auch auf der Grundlage von vorhandenem Wissen. Sie generieren nicht alles neu. Man hat in jeder Wissenschaft Stützen, auf die man sich verlässt.

Osterwalder: Ja, das stimmt, aber nicht überall gibt es gleich viele Stützen. In den Naturwissenschaften gibt es reifere und unreifere Disziplinen. Als man in den 1920er Jahren beispielsweise die Quantenphysik entdeckte, war das ein Eldorado. Heute ist der Wissenstand in der Physik extrem hoch und es ist schwierig, grundsätzlich neue Problemstellungen zu formulieren. Dafür sind wir in der modernen Biologie heute an dem Punkt, an dem die Physik vor 90 Jahren war. Die Fortschritte passieren dort sehr schnell.

Hagner: Das ist ein wichtiger Punkt. Jede Wissenschaft hat ihre eigene Geschichtlichkeit. Irgendwann wird ein Gebiet unwichtig wie beispielsweise die Botanik oder die Zoologie. Es kann sein, dass diese wieder zu heissen Forschungsfeldern werden, aber das muss nicht sein.

Wir haben über verschiedene Forschungsgebiete und Methoden gesprochen. Deshalb die Frage: Kann man mit geisteswissenschaftlicher Forschung überhaupt etwas beweisen?

Egenhofer: Auf die Kunstgeschichte bezogen, glaube ich: Ja. Die Krux dieser Forschung liegt ja genau darin, dass ein Kunstwerk gleichzeitig subjektiv betrachtet und wissenschaftlich analysiert werden kann. Aber diese beiden Dimensionen sind teils widersprüchlich.

Aber ist eine Bildanalyse wissenschaftlich?

Egenhofer: Geisteswissenschaftliche Erkenntnis ist nicht im selben Sinne richtig oder falsch wie naturwissenschaftliche. Doch sie ist nicht im Wesentlichen subjektiv. Eine Bildanalyse ist nicht mit Instrumenten messbar, wie dies in der Physik möglich ist. Aber sie ist methodisch kontrollierbar. Die Kunstwissenschaft funktioniert nach bestimmten Regeln, sie hat eine eigene Terminologie und beruft sich auf frühere Erkenntnisse.

Und ist die Physik völlig objektiv?

Osterwalder: Die Wahrnehmung von physikalischen Phänomenen sollte auf jeden Fall objektiv sein.

Hagner: Für die Geisteswissenschaften sind die objektiv beantwortbaren Fragen aber oft nicht die entscheidenden. Ein unbequemes Beispiel: Hat es in der Schweiz rassenhygienisch motivierte Zwangssterilisierungen gegeben? Ja, hat es. Man kann das mit historischen Quellen beweisen. Für den Historiker ist es aber wichtig, diese Fakten in die Geschichte einzuordnen.

Aber auch in der Physik werden Annahmen getroffen, die noch nicht bewiesen sind... oder liefert Physik immer objektive Beweise?

Osterwalder: Nein. Wenn bei einem Experiment etwas Neues passiert, darf man auch darüber spekulieren. So könnte eine ungewöhnliche Messkurve beispielsweise ein Hinweis auf Hochtemperatursupraleitung sein. Man muss in einem Paper einfach klar schreiben, was Fakt und was Spekulation ist.

Auch die Analysen von Historikern beruhen auf nachprüfbaren Quellen. Dann machen Sie beide doch etwas Ähnliches?

Egenhofer: Auf jeden Fall.

Osterwalder: Ja. Wie in der Geschichte gibt es auch in der Physik grosse Fragen, auf die es noch keine beweisbare Antwort gibt. Dann müssen wir anhand unserer Daten deuten, was die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist.

An der Uni Zürich wird Wissenschaft schon seit 1833 betrieben. Was hat sich seit damals verändert?

Hagner: Im Moment wächst die Wissenschaft gewaltig. Sie wird aber auch wieder schrumpfen.

Wieso?

Hagner: Seit dem 17. Jahrhundert verdoppelt sich die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen ungefähr alle 15 Jahre. Irgendwann muss Schluss sein, schon aus finanziellen Gründen. Eine weitere Veränderung: Mit dem Neoliberalismus wurde der unmittelbare Nutzen des Wissens zum Fetisch erhoben. Das heisst für die Geisteswissenschaften, dass sie immer mehr unter Druck geraten. Ändern wird sich das erst in der nächsten Krisensituation wieder; denn historisch gesehen haben diese Wissenschaften dann Zuwachs, wenn die Gesellschaft wieder einmal nach einem Sinn sucht.

Im Moment erleben wir auch eine Zunahme von Disziplinen, die sich auf naturwissenschaftliche Methoden stützen, wie beispielsweise die Neuro-Ökonomie. Entsteht dadurch Druck auf die Geisteswissenschaften, solche Methoden anzuwenden?

Egenhofer: Für die Drittmittelbeantragung ist es für die Geisteswissenschaften sicher hilfreich, eine Anbindung an die Naturwissenschaften zu haben. Weil es originell und seriös wirkt, und weil es teuer ist (lacht).

Hagner: Bindestrich-Disziplinen wie die Neuro-Ökonomie scheinen mir in der Krise zu sein. Die Fächer könnte es in zehn Jahren nicht mehr geben. Im Bereich der digital humanities arbeiten die Geisteswissenschaftler mit Informatikern zusammen, um grosse Datenmengen zu erheben. Ich glaube aber nicht, dass das die Geisteswissenschaften völlig umwälzen wird.

Osterwalder: Mehr Objektivität könnte aber ein Bedürfnis der Gesellschaft sein. Ich denke zum Beispiel an psychiatrische Gutachten, die sich ja oft stark widersprechen.

Egenhofer: Das schon, aber ob da neurowissenschaftliche Methoden helfen, ist eine andere Frage. In Luzern werden IV-Rentner an Elektroden angeschlossen, um zu prüfen, ob sie anspruchsberechtigt sind. Das ist höchst umstritten. Das Prestige der objektiven Wissenschaft kann auch sehr gefährlich sein.

Welche Aufgabe soll denn Wissenschaft in unserer Gesellschaft erfüllen?

Egenhofer: Wissenschaft sollte ermöglichen, das Selbstverständnis gegenüber der eigenen Zeit zu verlieren. Wir leben in einer digitalisierten Welt, in der vieles gleichzeitig abläuft. Dagegen brauchen wir zwingend historische Erfahrung.

Hagner: Wissenschaft dient der Wohlfahrt der Menschheit und ist Erkenntnis über die Welt. Zudem ist sie ein gutes Mittel, um sich gegen Fundamentalismen aller Art zu immunisieren; gegen religiöse, politische, ideologische und solche aus der Wissenschaft.

Gibt es eine Frage, deren Beantwortung Sie in ihrem Leben noch gerne erleben würden?

Osterwalder: Dass die Physiker und die Chemiker das Energieproblem lösen können. Zum Beispiel durch Wasserspaltung mit Hilfe von Sonnenlicht, aus dem man dann einen CO2-neutralen Brennstoff machen kann.