Das Richtplanmodell (blau) des Irchels nach Max Ziegler wurde nur zum Teil umgesetzt. Michael Kuratli

Der hässliche Bruder

Am Aussenstandort der Universität Zürich wird seit vierzig Jahren in Etappen gebaut. Nötig war er dringend; eine Herzensangelegenheit ist er bis heute nicht.

5. Mai 2014

Wandert man von der Tramstation Milchbuck durch den Irchelpark den Hügel hinauf, wähnt man sich in einem Naturreservat. Wie in der Ruine einer antiken Stadt kämpft man sich über die menschlichen Beinlängen widersprechenden Stufen hoch zur Universität. Knapp über der Kuppe erkennt man eines der grössten Bauprojekte des Kantons Zürich im 20. Jahrhundert: die Gebäude der Universität Irchel, die sich in ihre Umgebung ducken, wie ein Riese, der sich im Wald verstecken will.

Im Jahr 1973 wurde nach rund zehn Jahren Planung der Grundstein der ersten Bauetappe gelegt. Die Teilverlegung der Uni vom Zentrum wurde konkret. Als Erstes wurden vier Gebäude links der Mittelachse bis 1978 erstellt. In bisher vier Bauphasen fand der Campus über die Jahrzehnte langsam zu seiner heutigen Form. Geplant und gebaut wird noch immer nach dem Grundplan von Max Ziegler, dem Gewinner des Ideenwettbewerbs von 1965, dessen Konzept den Richtplan des Areals bestimmte.

Technokraten am Werk

Wer heute durch die verwinkelten Gänge des Irchels wandelt, ist schnell einmal verwirrt, wenn sich die Gebäudenummern ändern, ohne dass man durch eine Türe gegangen ist oder ein Haus verlassen hat. Ein richtiges Zentrum besitzt der Campus bis heute nicht. Mit der dritten Bauphase 1994 wurde das blendendblaue Quadrat in der Mitte des Komplexes zwar nach Georg Büchner benannt; belebt ist es allerdings kaum. Bereits die Architekten um Jakob Schilling, welche die 1983 vollendete zweite Bauphase ausführten, hatten versucht, dieses Manko im Grundschema mit dem Bau des Lichthofes zu beheben.

Die Vorgaben im Ideenwettbewerb des Kantons 1965 waren strikt. Mindestens 15 km² Fläche des Strickhofareals – heute grösstenteils der Irchelpark – sollte freibleiben und das Projekt etappierbar sein, im Baukastensystem funktionieren und damit für zukünftige Nutzungen offen bleiben. Auch die kubische Gebäudeform war vorgeschrieben. Die Projekte auf der Shortlist unterschieden sich denn auch nur minimal. Während Karl Mosers 100-jähriges Hauptgebäude dieses Jahr für seine Strahlkraft gelobt und seine architektonische Raffinesse hervorgehoben wird, war der Irchel schon immer Zweckbau. «Der Richtplan Irchel ist ein Musterbeispiel einer eindimensionalen, sauberen Grosslösung. Er entspricht dem technokratischen Denken der sechziger Jahre», schrieb Benedikt Loderer, Architekturkritiker und Journalist, 1983 im Tages-Anzeiger-Magazin anlässlich der Eröffnung der zweiten Bauetappe, die fast alle Gebäude rechts der Mittelachse umfasst. Im selben Artikel zeigte Loderer auf, wie die Regierung dazumal in die Trickkiste griff, um einen Campus bauen zu können, der den steigenden Studierendenzahlen gewachsen sein würde.

Das Problem war die Prognose der Planungskommission von 1961, die eine Obergrenze von maximal 10 000 Studierenden für ideal erachtete. Von dieser Zahl wollte man nicht abrücken, obwohl sie schon bei Baubeginn des neuen Campus überholt war. Einerseits, um die anstehende Abstimmung über das Projekt Irchel nicht zu gefährden. Andererseits, um nicht die Diskussion darüber führen zu müssen, wohin sich die Akademie tatsächlich entwickelte: zur Massenuni. Bei der Planung behalf man sich deshalb mit vermeintlicher Grosszügigkeit. Mit schwammigen Vergleichen zum Ausland sah man für die Studierenden schlicht doppelt so viel Platz wie bisher vor. Die Bevölkerung stimmte 1971 einem Rahmenkredit von 600 Mio. für den Gesamtausbau des Irchels zu. Damit hat der Kanton von der Bevölkerung einen Blankoscheck für Neubauten bekommen, die den tatsächlich benötigten Kapazitäten entsprachen. Heute müssen die damals luxuriös ausgestatteten Naturwissenschaftler aber wieder zusammenrücken.

Die Macht des Kantons

Trotz der Teilverlegung zum Irchel konnte nicht verhindert werden, dass sich die Institute heute wegen Platzmangels über die ganze Stadt verteilt einmieten müssen. Neuerdings gar in Schlieren im Wagi-Areal. Längerfristig will man sich aber auf die zwei Standorte Zentrum und Irchel konzentrieren; eigentlich die Grundidee des Baus am Irchel. Erschwert wird dieser Plan unter anderem durch den Interessenkonflikt um die beliebte Freifläche. Der Kanton spielt immer wieder mit nichtuniversitären Bauplänen hinein. Als Landbesitzer versetzte er nach einer gescheiterten Abstimmung 1975 bereits das Staatsarchiv im Zuge der zweiten Ausbauetappe an den heutigen Standort, der eigentlich für Hörsäle vorgesehen gewesen war.

Dem ursprünglichen Raster wäre auch der Strickhof zum Opfer gefallen. Ein Ausbau für die bestehenden Fakultäten ist aber auch hier nicht mehr möglich, weil man sich entschied, die alten Gebäude zu erhalten. Sie werden zu einem Teil des Kompetenzzentrums für Land- und Ernährungswirtschaft «Agrovet» umgebaut, einer Abteilung des Amtes für Landschaft und Natur der Baudirektion des Kantons. Um nicht nur Nutzerin mit beschränkten Mitbestimmungsrechten bei der Planung zu bleiben, hat die Universität beim Regierungsrat die Bauherrschaft für kommende Erweiterungen beantragt. Die Uni will damit ihre 1999 erlangte Autonomie auch auf diesen entscheidenden Bereich ausweiten und verweist auf die ETH, die ihre Infrastruktur bereits heute autonom plant. Ob man der Universität ihre Planungsfreiheit gewähren will, muss schliesslich der Kantonsrat entscheiden.

Die ungleichen Geschwister

Die Uni wird mit den beiden Standorten längerfristig zum Geschwisterpaar – mit einem schönen und einem hässlichen Bruder. Denn während die «beaux-arts» im Zentrum derzeit das «Haus der Wissenschaft» feiern, kommt im faktenbezogenen Naturwissenschaftszentrum Irchel kaum architektonische Freude auf. So nötig der Irchel auch war und ist, ein wirkliches Gesicht hat er nicht.

In der Wettbewerbsidee Zieglers fand sich ein Turm als künftiges Wahrzeichen, für den der Vorschlag explizit gelobt wurde. Realisiert wurde er bis jetzt nicht; wohl vor allem wegen der traditionellen Abwehrhaltung Zürichs gegenüber Türmen in Zentrumsnähe. Die Ablehnung hat sich aber in letzter Zeit wieder zu einer Faszination gewandelt, die an die vorletzte Jahrhundertwende erinnert. Der neue Rektor Michael Hengartner wünscht sich denn auch am liebsten gleich zwei Hochhäuser, die die Doppelhelix der DNA symbolisieren sollen. Doch bleibt er realistisch: «Ein Ausbau nach dem ursprünglichen Schema wird immer unmöglicher. Für Erweiterungen müssten wir uns zum Tierspital hin orientieren», sagt Hengartner. Bitter nötig sei die kommende fünfte Ausbauetappe, meint er. Diese hat der Kantonsrat vor einem Jahr nach langen Verzögerungen durch bürgerliche Sparfüchse, namentlich aus der SVP und FDP, bewilligt. Sie beinhaltet zwei weitere Legoblöcke mit Labor- und Tierhaltungsinfrastruktur. Es wird die letzte Bauetappe sein, die noch nach dem bisherigen Schema umgesetzt werden kann. Sie läuft aber bereits ausserhalb des 1971 beschlossenen Rahmenkredits. In den nächsten Monaten werden Uni und Kanton mitteilen, wie es mit Irchel und Zentrum weitergeht. Diese Pläne bilden die Grundlage für den weiteren Ausbau der Uni. Nach dem Hauptgebäude und dem Irchel wird es das dritte Generationenprojekt der Alma Mater sein.