Der WG-Zweckbau am Rand von Zürich. Benjamin Erdman

Willkommen im WG-Moloch

Ein neues Wohnhaus am Rand von Zürich bietet 332 Studierenden ein neues Obdach. Die ZS zu Gast im Zweckbau.

29. März 2014

Sie zieht in eine 15er-WG, kennt dort keinen Menschen und hat den Mietvertrag für ihr Zimmer unterschrieben, ohne es je gesehen zu haben. Mado ist eine von 332 Studierenden, die in das grösste studentische Wohnhaus Zürichs einzieht, das in Affoltern am äussersten Stadtrand von Zürich hingeklotzt wurde. Nervös und bepackt mit Koffer und überfülltem Rucksack steht sie in der Eingangshalle, wo sie Pascal Wyrsch, Mitarbeiter der Studentischen Wohngenossenschaft (WOKO), in Empfang nimmt. Heute ziehen über hundert neue Mieter ein.

Die neue Studierendensiedlung liegt an der Cäsar-Ritz-Strasse – benannt nach dem Schweizer Hotelier, der in der ganzen Welt Resorts der Luxusklasse baute. So luxuriös wie im Pariser «Ritz» ist es hier aber nicht. Das Haus ist ein Zweckbau. In nächster Nachbarschaft stehen gesichtslose Blöcke mit Eigentumswohnungen, während in der Ferne die Autobahn rauscht. Im Innern des Gebäudes ist davon kaum etwas zu hören. Die WG-Zimmer weisen einen gewissen Komfort auf. Vom Besteck bis zum Staubsauger ist für alles gesorgt. Die einziehenden Studis müssen weder Tische noch Stühle schleppen. Für einige geht der Service trotzdem zu wenig weit. «Ich wurde schon gefragt, wann eigentlich das Putzpersonal vorbeikomme», sagt Wyrsch.

Notunterkunft im ETH-Bunker

Bauherrin des neuen Obdachs für Studis ist die Stiftung für studentisches Wohnen (SSWZ). Sie hat die Hauptkosten des 39 Millionen Franken teuren WG-Molochs übernommen. Die WOKO kümmert sich nun darum, dass Leben in die Bude kommt. Es werden gerade noch die letzten Zimmer vermietet, sagt Pascal. Günstiger Wohnraum spricht sich in Zürich auch dann in Windeseile herum, wenn er am Rand der Stadt liegt.

Wie schwierig es für gewisse Studierende ist, in Zürich ein Dach über dem Kopf zu kriegen, sieht man am Beispiel der ETH. Immer zum Semesterbeginn richtet die Hochschule eine Zwischenunterkunft für obdachlose Studis in einem ehemaligen Luftschutzbunker ein. 50 Betten stehen dort bereit, wie Annina Wanner von den Studentischen Diensten der ETH auf Anfrage mitteilt. Das Angebot bestehe bereits seit Herbst 2012. Wo sich der ETH-Bunker befindet, will Wanner nicht verraten. Er liege aber sehr zentral – keine fünf Minuten vom Hauptgebäude entfernt. Hauptsächlich machen internationale Studierende vom Angebot Gebrauch. Im Herbstsemester 2013 verbuchte die ETH 600 Übernachtungen. Die Anlage ist für die Studis eineinhalb Monate geöffnet. Danach sollten sie ein Zimmer gefunden haben. Der Wohnraum im Bunker ist zwar befristet, aber bezahlbar: Ein Bett im fensterlosen Massenschlag kostet pro Nacht zehn Franken.

Pornoseiten und zotige Sprüche

Ganz so günstig ist es an der Cäsar-Ritz-Strasse nicht. Dennoch dürfte es schwierig sein, die Miete von durchschnittlich 540 Franken pro Monat für ein normales WG-Zimmer zu unterbieten. Für den Preis kriegen die Studierenden lichtdurchflutete Zimmer sowie geräumige Küchen geboten. In Richtung Autobahn liegen die Zimmer für befristetes Wohnen. Dort logieren meist Austauschstudierende. Dementsprechend dominiert Englisch in den betongrauen Gängen. Die meisten hier studieren an der ETH. Die Zimmer der WOKO stehen aber allen Studis bis 28 Jahren offen, die an einer Zürcher Hochschule immatrikuliert sind. Die maximale Mietdauer beträgt acht Jahre.

Am Tag unseres Besuchs ist die Stimmung in der Siedlung gelassen. Auch Chemiestudentin Mado lässt sich nichts anmerken, obwohl sie schon etwas neugierig auf ihr Zimmer ist. Pascal führt sie in den engen Lift und drückt auf dem blankpolierten Armaturenbrett die 3. Die verspiegelten Wände des eigentlich edlen Aufzugs werden von billigen Abdeckplatten geschützt. Einige Bewohner haben sich mit fetten Filzstiften bereits darauf verewigt. Sexuelle Anspielungen bilden den Inhalt der Tags, gewisse verweisen auf Pornoseiten im Internet. Die Fahrt im Lift dauert gerade lange genug, um die zotigen Sprüche zu lesen und verschämt zu grinsen.

Vom kahlen Treppenhaus geht es in die Gross-WG. 15 Studis hausen hier. Das Innere der Wohnung besteht aus einem langen Gang, der an die Dielen eines billigen Hotelriesen erinnert. Auf dem Küchentisch steht originalverpacktes Ikea-Geschirr. Mado hat Glück. Ihr Zimmer hat einen Balkon. Der Raum hingegen ist spartanisch eingerichtet. An der Wand steht ein schmales Bett, daneben ein kleiner Schreibtisch mit einem Bürostuhl in utilitaristischem Design. Etwas ausgefallener gestaltet sich ein begehbarer Kleiderschrank, der sich hinter einer Betonwand versteckt. Diese architektonische Raffinesse löst bei Mado Entzücken aus. Für die Chemiestudentin gehe ein Traum in Erfüllung. Ihre letzte Wohnung lag zwar in der Innenstadt, sei aber um einiges unkomfortabler gewesen.

Jam-Sessions und Sport im Wald

Geräumiger als Mados Zimmer ist der Aufenthaltsraum im Erdgeschoss. Er erinnert eher an eine Jugendherberge als an ein Studierendenwohnheim. Eine acht Meter lange Bar aus Stahl lässt erraten, dass im Haus nicht nur geschlafen und gegessen wird. Zudem können musikalische Studierende in einem schallisolierten Raum ihre Instrumente strapazieren. Das Zimmer lädt zu spontanen Jam-Sessions ein. Damit es nicht zu Lärmklagen kommt, habe man den Sitzplatz in Richtung Autobahn ausgelegt, erklärt Pascal. Auf der anderen Seite wohnen nebst Familien auch ältere Menschen, die bekanntlich besonders sensibel auf Lärm jeglicher Art reagieren.

Drei Hausverantwortliche sind dafür zuständig, dass die Partys nicht ausarten. Sie sind selbst Studierende und sollen für Ruhe und Ordnung sorgen. Doch auch für die alltäglichen Probleme der Bewohnerinnen und Bewohner haben sie ein offenes Ohr. Dafür erhalten sie einen Stundenlohn von 30 Franken.

Der WG-Koloss liegt zwar am Ende der Stadt, wohin sich keine Zürcher Hipster und Szenis verirren. Sogar der 32er-Bus will hier nicht mehr weiterfahren. Und obwohl das Wohnhaus an der Autobahn liegt, ist man schnell in der Natur. Jogger und andere Bewegungsfanatiker können in den nahen Wäldern ihre Körper stählen, betongleich wie ihr Zuhause.